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Ludwig Wittgenstein

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Ludwig Josef Johann Wittgenstein (* 26. April 1889 in Wien; † 29. April 1951 in Cambridge) war einer der wichtigsten Philosophen des 20. Jahrhunderts.

Er hatte großen Einfluss auf die Philosophiegeschichte: Eine ganze Philosophierichtung, nämlich die (sprach-)analytische Philosophie, entstand unter dem Einfluss seiner Persönlichkeit und Werke. Darüber hinaus hat er die Logik und die Philosophie der Logik befruchtet.

Leben

Ludwig Wittgenstein war das jüngste von acht Kindern des Großindustriellen Karl Wittgenstein, der vorwiegend in der Stahlindustrie tätig war. Er wurde katholisch erzogen, obwohl drei seiner vier Großeltern aus jüdischen Familien kamen. Wie er selbst zeichneten sich seine Geschwister durch außerordentliche musische und intellektuelle Fähigkeiten aus. Sein Bruder Paul etwa wurde ein berühmter Pianist. Diesen Fähigkeiten stand jedoch eine seelische Labilität gegenüber: Drei seiner Brüder (Hans, Rudolf, Kurt) begingen Selbstmord. Auch Ludwig Wittgenstein legte Zeit seines Lebens (insbesondere nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs) depressive Verhaltensweisen an den Tag und erwies sich im menschlichen Miteinander als einerseits herrisch und rechthaberisch, andererseits als sensibel und unsicher. Alle Zeitgenossen beschreiben Wittgenstein als außerordentlich beeindruckende Persönlichkeit.

Ludwig Wittgensteins intellektuelle Erziehung begann mit häuslichem Privatunterricht in Wien, ab 1903 besuchte er dann die Realschule in Linz (an der zur gleichen Zeit, seit 1900/01, auch Adolf Hitler Schüler war). Am 28. Oktober 1906 immatrikulierte sich Ludwig Wittgenstein an der Technischen Hochschule Berlin, der heutigen Technischen Universität Berlin. Ursprünglich hatte er bei Ludwig Boltzmann in Wien studieren wollen. Für Berlin entschied sich Wittgenstein, weil sein Realschulzeugnis ihm die Einschreibung an der Universität erst nach einem weiteren Studium erlaubte. In Berlin beschäftigte sich Wittgenstein, so die Schwester Hermine in ihren Familienerinnerungen, „viel mit flugtechnischen Fragen und Versuchen.“ Doch dann zog die Philosophie ihn in seinen Bann. Hermine Wittgenstein notierte: „Zu dieser Zeit oder etwas später ergriff ihn plötzlich die Philosophie, d.h. das Nachdenken über philosophische Probleme, so stark und so völlig gegen seinen Willen, dass er schwer unter der doppelten und widerstreitenden inneren Berufung litt und sich wie zerspalten vorkam.“

Nach dem Abschlussdiplom als Ingenieur 1908 ging Wittgenstein nach Manchester, wo er an der Universität an der Abteilung für Ingenieurwissenschaften versuchte, einen Flugzeugmotor zu bauen. Diesen Plan gab er jedoch bald auf. Dann arbeitete er an „Verbesserungsvorschlägen für Flugzeugpropeller“, einem Projekt, für das er am 17. August 1911 das Patent erhielt. Schließlich aber dominierte die Philosophie: Nicht zuletzt auf Anregung Gottlob Freges, den er 1911 in Jena besuchte, begann Wittgenstein ein Studium in Cambridge am Trinity College, wo er sich intensiv mit den Schriften Bertrand Russells beschäftigte, insbesondere mit dem Werk „Principia Mathematica“, das zum Ziel hatte, die mathematischen Axiome aus logischen Prinzipien abzuleiten, ein Ziel, das auch Gottlob Frege verfolgte. Russell zeigt sich nach den ersten Begegnungen jedoch gar nicht beeindruckt von Wittgenstein: „Nach der Vorlesung kam ein hitziger Deutscher, um mit mir zu streiten. ... Eigentlich ist es reine Zeitverschwendung, mit ihm zu reden.“ (Russell 16.11.1911). Nach nicht einmal zwei Wochen sollte sich Russells Meinung jedoch geändert haben: „Ich fange an, ihn zu mögen; er kennt sich aus in der Literatur, ist sehr musikalisch, angenehm im Umgang (ein Österreicher), und ich glaube, wirklich intelligent.“ (Bertrand Russell an Ottoline Morrell, 29.11.1911). Schon bald hielt Russell Wittgenstein für nichts weniger als ein Genie, und Wittgenstein entwickelte sich schnell vom Schüler zum Lehrmeister Russells, der seine Grundannahmen erschütterte. Russell war schließlich der Meinung, Wittgenstein sei besser geeignet als er, sein logisch-philosophisches Werk fortzuführen.

Unter anderem mit Hilfe Russells Unterstützung wurde Wittgenstein im November 1911 in die elitäre Geheimgesellschaft Cambridge Apostles gewählt. In David Pinsent fand er dort seinen ersten Geliebten. Sie erwarben gemeinsam ein Holzhaus in Norwegen. Doch Wittgenstein fühlte sich darin nicht heimisch und verließ sie bald wieder.

Im Jahre 1911 begann Wittgenstein mit der Arbeit an seinem ersten philosophischen Werk, der Logisch-philosophischen Abhandlung. Auch während seiner Zeit als Soldat im Ersten Weltkrieg, an dem er als Freiwilliger in der österreichischen Armee teilnahm, arbeitete er daran weiter, bis er das Werk schließlich im Sommer 1918 vollendete. Es erschien jedoch erst 1921 in einer fehlerhaften Version in der Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie. 1922 wurde schließlich eine zweisprachige Ausgabe unter dem heute bekannten Titel der englischen Übersetzung veröffentlicht: Tractatus Logico-Philosophicus. Abgesehen von zwei kleineren philosophischen Aufsätzen und einem Wörterbuch für Volksschulen blieb die Logisch-philosophische Abhandlung das einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Werk Wittgensteins.

Frühwerk

Mit der Logisch-philosophischen Abhandlung (Tractatus) vollzog Wittgenstein den „linguistic turn“ in der Philosophie, die Hinwendung zur Sprache: Philosophische Probleme zu verstehen heißt wesentlich auch, die Funktionsweise der Sprache zu verstehen. Der Kern von Wittgensteins Frühphilosophie besteht in einer Abbildtheorie der Bedeutung: die Bedeutung eines Wortes besteht in einem Ding, das es vertritt. Sätze können eine Struktur analog der Struktur der Wirklichkeit haben. Bilden die Worte in einem „Satzzeichen“ (worunter buchstäblich Wörter in ihrer Aufeinanderfolge zu verstehen sind) dieselbe Struktur wie ihre Dinge oder Gegenstände in der Wirklichkeit, liegt ein „wahrer“ Satz vor. „Falsch“ sind Sätze, in deren Satzzeichen die Worte zwar in erlaubter Weise zueinander stehen, ohne dass ihre Gegenstände in der Wirklichkeit jedoch dieselbe Struktur wiederholten. „Sinnlos„ sind Sätze, in deren Satzzeichen eine unmögliche Weltanordnung vorgestellt wird. Wittgenstein entwickelte in der Nachfolge von Gottlob Frege und Charles S. Peirce in der Logisch-philosophischen Abhandlung die so genannten „Wahrheitstabellen“, die heute in keinem Lehrbuch zur Logik fehlen. „Es handelt sich, ganz eigentlich um die Darstellung eines Systems“ (aus einem Brief Wittgensteins an Ficker, den Herausgeber der Zeitschrift „Brenner“). Laut Wittgenstein liegt die Logik aller Erkenntnis zugrunde - und markiert zugleich deren Grenze: „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“. In diesem Sinne beginnt die Logisch-philosophische Abhandlung mit dem Satz: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“ und schließt mit dem viel zitierten Satz: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.“

Übergangszeit

Mit der Veröffentlichung der Logisch-philosophischen Abhandlung glaubte Wittgenstein, seinen Beitrag für die Philosophie geleistet zu haben, und wandte sich anderen Tätigkeiten zu. Zunächst besuchte er 1919/1920 die Lehrerbildungsanstalt in Wien. Danach wurde er für einige Jahre Volksschullehrer „in einem der kleinsten Dörfer, es heißt Trattenbach und liegt vier Stunden südlich von Wien im Gebirge“ (Brief an Russell), war jedoch bald in pädagogischer Hinsicht überfordert (wie auch inhaltlich). Nachdem er den Schuldienst im April 1926 quittiert hatte arbeitete er einige Monate als Gärtnergehilfe in einem Kloster. Von 1926 bis 1928 erstellte er zusammen mit dem Architekten Paul Engelmann für seine Schwester Margarete Stonborough in Wien ein Haus (Haus Wittgenstein). Wittgenstein war dabei für innenarchitektonische Gestaltung des Hauses zuständig. Daneben war er bildhauerisch tätig und erstellte eine Büste im Stile des Wiener Künstlers Dobril. Auch bei diesen praktischen Tätigkeiten zeigte sich die selbstbezogene Arbeitsweise Wittgensteins. Sein Ziel war nicht allgemein gesellschaftlicher Natur, es ging ihm nicht etwa darum, die „Welt zu verbessern“, sondern es ging ihm um sein „Seelenheil“, er strebte intellektuelle und psychische Reinheit und Klarheit an. Später schrieb Wittgenstein rückblickend: „Die Arbeit an der Philosophie ist - wie vielfach die Arbeit in der Architektur - eigentlich mehr die/eine Arbeit an Einem selbst. An der eigenen Auffassung. Daran, wie man die Dinge sieht (Und was man von ihnen verlangt).“

Ende der 1920er Jahre begann Wittgenstein sich wieder intensiv mit philosophischen Fragen zu beschäftigen. Dabei stand er in Kontakt zu einigen Mitgliedern des Wiener Kreises, dessen Diskussionen er maßgebend beeinflusste (wenngleich in einer Weise, die Wittgenstein nicht guthieß, da er der Meinung war, dass er nicht richtig verstanden worden sei). Durch einen Vortrag des intuitionistischen Mathematikers L. E. J. Brouwer wurde er - so zumindest nach einem Bericht von Herbert Feigl - schließlich nachhaltig aufgerüttelt und wandte sich wieder der Philosophie zu. Während dieser „Übergangsphase“ vertrat Wittgenstein kurzfristig eine Auffassung, die sich als eine Form des Verifikationismus beschreiben lässt: Die Kenntnis der Bedeutung von Sätzen geht einher mit der Kenntnis der einschlägigen Verifikations- oder Beweisverfahren.

Spätwerk

1929 kehrte Wittgenstein als Philosoph nach Cambridge zurück, wo er zunächst bei Russell und Moore in einer mündlichen „Prüfung“ über den Tractatus promovierte. Da er sein Erbe während des Ersten Weltkriegs ausgeschlagen und auf seine Geschwister verteilt hatte, war seine finanzielle Lage zunächst prekär, sodass er auf Stipendien angewiesen war. Anfang der 1930er Jahre erhielt er einen Lehrauftrag. Zwischen 1936 unternahmen Wittgenstein und sein zweiter Geliebter Francis Skinner mehrere Reisen nach Norwegen Wien und Russland. 1939 wurde er zum Nachfolger George Edward Moores berufen. Während der dreißiger Jahre gab Wittgenstein zahlreiche Kurse und Vorlesungen. Immer wieder versuchte er, seine neuartigen Gedanken, die er unter anderem in Auseinandersetzung mit seinem Erstlingswerk entwickelte, in Buchform zu verfassen und erstellte zahlreiche Manuskripte und Typoskripte. Wichtige Zwischenschritte waren „The Blue Book“ (Typoskript eines englischen Diktats) und „The Big Typescript“. Trotz seiner intensiven Bemühungen gelang es Wittgenstein jedoch nicht, sein Buchprojekt zu beenden. Erst postum erschienen im Jahre 1953 die Philosophischen Untersuchungen, durch die er schnell zu Weltruhm gelangte. Denn dieses Werk beeinflusste die Philosophiegeschichte noch nachhaltiger als die Logisch-philosophische Abhandlung (Tractatus). Es gilt als eines der Hauptwerke der sprachanalytischen Philosophie (siehe auch nachfolgender Essay).

Wittgensteins Grabstein in Cambridge

Während des Zweiten Weltkriegs wurde Wittgenstein nochmals praktisch tätig. Er arbeitete als Freiwilliger in einer medizinischen Forschungsgruppe, die den so genannten Wundschock untersuchte, und entwickelte Apparaturen zur kontinuierlichen Messung von Puls, Blutdruck, Atemfrequenz und -volumen. Dabei bediente er sich der Erfahrungen, die er während der Entwicklung seines Flugmotors gemacht hatte.

1944 nahm er seine Vorlesungen in Cambridge wieder auf. Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte Wittgenstein seine philosophischen Untersuchungen fort und arbeitete unter anderem an der Philosophie der Wahrnehmung und zu den Themen Gewissheit und Zweifel. Aber auch zu vielen kulturellen und wissenschaftstheoretischen Themen hat Wittgenstein Erhellendes beigetragen. 1939 schrieb er: „Die Menschen heute glauben, die Wissenschaftler seien da, sie zu belehren, die Dichter und Musiker etc., sie zu erfreuen. Dass diese sie etwas zu lehren haben, kommt ihnen nicht in den Sinn.“

Im Oktober 1947 beendete Wittgenstein seine Tätigkeit an der Universität und lebte von da an zurückgezogen und verbrachte einige Zeit in Irland. Wittgenstein starb im Jahre 1951 an Krebs. Da Wittgenstein es ablehnte, in ein englisches Krankenhaus zu gehen, verlebte er die letzten Wochen im Hause seines Arztes, der ihn bei sich aufgenommen hatte. Als dessen Frau Wittgenstein kurz vor seinem Tod mitteilte, seine englischen Freunde würden ihn am nächsten Tag besuchen, sagte er: „Sagen sie ihnen, dass ich ein wundervolles Leben gehabt habe.“

Praxis vs. Grammatik - zur Deutung der Spätphilosophie

Wenn zwei Philosophen zu ihrer Meinung über Wittgenstein befragt werden, so erhält man häufig nicht zwei, sondern vier verschiedene Antworten: zwei unterschiedliche über Wittgensteins Frühwerk (die sich meistens noch relativ ähnlich sind) und zwei unterschiedliche über sein Spätwerk (die sich oft stark widersprechen). Gründe dafür sind unter anderem die elitäre Einstellung Wittgensteins, der besonders in der Frühphase häufig nicht dazu bereit war, ausführliche Erläuterungen zu geben. In der Spätphase war es unter anderem Wittgensteins hoher Anspruch an sich selbst, der ihn daran hinderte, flüssig lesbare, klar strukturierte längere Abhandlungen zu verfassen. „Nach manchen missglückten Versuchen, meine Ergebnisse zu einem solchen Ganzen zusammenzuschweißen, sah ich ein, dass mir dies nie gelingen würde. Dass das beste, was ich schreiben konnte, immer nur philosophische Bemerkungen bleiben würden; dass meine Gedanken bald erlahmten, wenn ich versuchte, sie, gegen ihre natürliche Richtung, in „einer“ Richtung weiterzuzwingen.“

Das heißt jedoch nicht, dass Wittgenstein nicht schreiben konnte: Die oft als kurze Dialoge verfassten, aphoristischen Bemerkungen seines Spätwerks zeichnen sich teilweise durch außerordentliche stilistische Brillanz aus. Neben der - an der philosophischen Tradition gemessen - ungewohnten Textstruktur gibt es allerdings einen interessanteren Grund für die Meinungsvielfalt über Wittgensteins Schriften: das Neuartige an Wittgensteins Art des Philosophierens, besonders in der späteren Phase. Nur wenige Philosophen haben so intensiv über das Wesen der „Philosophie“ und des „Philosophierens“ nachgedacht wie Wittgenstein besonders in seiner späteren Phase, auf der im Weiteren das Schwergewicht liegen soll.

Wittgenstein hielt die meisten Probleme in der Philosophie für hausgemacht: Unter anderem aufgrund oberflächlicher grammatischer Ähnlichkeiten lassen sich viele zu irreführenden Auffassungen verleiten. In den Philosophischen Untersuchungen, dem Hauptwerk seiner Spätphilosophie, heißt es: „Es ist eine Hauptquelle unseres Unverständnisses, daß wir den Gebrauch unserer Wörter nicht übersehen.“ Weil dies der Fall ist, verrennen sich die Betroffenen immer wieder in intellektuellen Sackgassen. Zum Beispiel kann die oberflächliche Ähnlichkeit zwischen Sätzen wie „Ich habe einen Stuhl“ und „Ich habe einen Eindruck“ oder „Ich habe Zahnschmerzen“ zu der Auffassung verleiten, dass man Eindrücke oder Empfindungen in gleicher Weise „hat“ wie „Stühle“ (Gegenstände, deren Besitz man durch Verkauf oder Einäscherung verlieren kann), was schließlich dazu führt, dass Wörter wie „Eindruck“, „Empfindung“, „Gedanke“ oder „Zahl“ als Bezeichnungen für gewissermaßen unsichtbaren Gegenstände (z.B. „Ideen“) aufgefasst werden. Das Ziel Wittgensteins besteht darin, dem solcherart von der Sprache angeführten Denken den Ausweg zu weisen, indem er verschiedene Verwendungszusammenhänge der betreffenden Wörter (z.B. von „haben“ oder „ist“) beschreibt. „Die Ergebnisse der Philosophie sind die Entdeckung irgendeines schlichten Unsinns und Beulen, die sich der Verstand beim Anrennen an die Grenzen der Sprache geholt hat.“

Bis zu diesem Punkt sind sich die Interpreten der Schriften Wittgensteins noch weitgehend einig. Die entscheidende Trennlinie besteht hinsichtlich der radikalen Schlussfolgerungen, die Wittgenstein aus diesem Ansatz zieht: Die Philosophie „läßt alles, wie es ist.“ „Die Philosophie stellt eben alles bloß hin, und erklärt und folgert nichts. - Da alles offen liegt, ist auch nichts zu erklären.“ „Wollte man Thesen in der Philosophie aufstellen, es könnte nie über sie zur Diskussion kommen, weil Alle mit ihnen einverstanden wären.“ Für Wittgenstein ist das Philosophieren kein „Erklären“ im Sinne des Aufspürens bislang unentdeckter (metaphysischer) Wahrheiten. Sondern es handelt sich um eine „therapeutische“ (einem Übel abhelfende) Tätigkeit, die allein die Aufgabe hat, problematische Verstrickungen des Denkens aufzulösen.

Hinsichtlich der Interpretation dieser Aussagen besteht ausgesprochen oder unausgesprochen ein Dissens unter den Lesern Wittgensteins. Eine Auffassung betont, dass Wittgenstein nur Methoden zum Lösen von philosohpischen Problemen an die Hand geben wollte, nicht aber Aussagen getroffen hat, die den Anspruch haben ein für alle Mal richtig bzw. wahr zu sein. Im Folgenden sei diese Lesart pragmatischer Zugang genannt. Eine andere Auffassung findet dagegen, Wittgestein habe zwar nicht Theoretisches, aber durchaus Normatives vertreten im Hinblick etwa auf das Wesen von Begriffen, besonders der Sprache. Entscheidend sei die neue Art der Begründung, die Wittgenstein eingeführt habe: die „Grammatikbeschreibung“. Diese Lesart sei im Folgenden als grammatischer Zugang bezeichnet. Wobei Wittgenstein mit „Grammatik“ etwas über Wortverwendungsnormen Hinausgehendes meint, das man mit „Gepflogenheiten“, „Lebensform“ (oder „Programm“) übersetzen könnte. Wittgenstein nennt es „Grammatik“, insofern es sich dabei um etwas Geregeltes, Lernbares, handelt, auf das Anwender „abgerichtet“ (sic!) werden können.

Nach Auffassung der Anhänger des „pragmatischen Zugangs“ wird man Wittgensteins Spätwerk nicht gerecht, wenn man versucht, irgendwelche zentralen Begriffe thesenhaft-theoretisch oder auch nur nach ihren Bestimmungen daraus abzuleiten. Denn Wittgenstein habe laut eigenem Bekunden eben keine Thesen aufgestellt oder Metaphysiken begründet. Alles, was Wittgenstein in seinem Spätwerk zu erreichen versuchte, war gemäß der pragmatischen Lesart das Vermitteln von verschiedenen Techniken für das Lösen von philosophischen Problemen, die er als geistige Krämpfe infolge unhinterfragter Annahme bestimmter „Bildern“ (etwa dass Zahlen für Gegenstände stehen müssen oder man die Zeit wie den Raum messen können muss - die Anwesenheit des Modaloperators zeigt immer etwas Unhinterfragtes an) verstand. Bei Wittgensteins Verfahren handelt es sich, finden die Pragmatiker, im Wesentlichen um die Entwicklung von Vergleichsobjekten (z.B. Messen der Zeit analog dem Abschreiten eines Raumes), das Aufzeigen von Unterschieden (Abschreiten liest sein Ergebnis nicht von einer vorausbestehenden Skala ab...), das Vermitteln von Übersicht. Folgende Passage aus den Philosophischen Untersuchungen stellt eine der zentralen Aussage Wittgensteins über seine Methode dar: „Die eigentliche Entdeckung ist die, die mich fähig macht, das Philosophieren abzubrechen, wann ich will. ... es wird nun an Beispielen eine Methode gezeigt, und die Reihe dieser Beispiele kann man abbrechen. - Es werden Probleme gelöst (Schwierigkeiten beseitigt), nicht ein Problem“.

Gemäß dem „grammatischen Zugang“ ist diese Entdeckung Wittgensteins eine Weiterung von Fähigkeiten, welche, bevor man von ihnen lassen kann, erst einmal erworben sein wollen - vor allem die Methode der hinnehmenden Veranschaulichung von Sprachspielen, ihrer „Grammatik“. Dafür habe Wittgenstein bevorzugt einerseits den Verwendungszusammenhang einiger Zentral-Begriffe dargestellt und so die Bedeutung etwa von „Bedeutung“ oder „Regel“ für seine Herangehensweise erhellt, während er andererseits z.B. mit „Sprachspiel“ oder „Familienähnlichkeit“ auch spezifische Begriffe seiner Methode unter Verwendung teilweise für deren Veranschaulichung erfundener Sprachspiele geschöpft und hinreichend bestimmt habe. Das Wesen solcher und aller Begriffe erhelle laut Wittgenstein aus der Darstellung ihres Verwendungszusammenhanges oder Sprachspiels. Wozu zuletzt auch Betrachtungen nach der philologischen oder historisch-kritischen Methode gehörten, Deutungen, Vergleiche von Entwicklungsstadien und Kritik.

Die „grammatisch“ Eingestellten sind dementsprechend der Meinung, „Sprachspiel“ sei ein Kernbegriff der Spätphilosophie Wittgensteins; Lebenswirklichkeit zerfalle nach Wittgenstein unhintergehbar in solche beschreibbaren „Regelkreise“, und in der Philosophie gehe es darum, ihre Grammatik - paradigmatisch oder im Zusammenspiel heterogener Beispiele - darzustellen. Dies geschieht dann mit manchmal verblüffenden Ergebnissen; etwa erhellt aus dem verdeutlichten Verwendungszusammenhang von „Traum“, dass damit nichts Privates, sondern nur ein bestimmter zwischenmenschlichen Verlauf gemeint sein kann - oder dass Äußerungen der ersten Person Singular keinen Wahrheitswert haben.

Den Grammatikern geht es ferner um die Verdeutlichung des nach ihrem Wittgensteinverständnis begriffsschöpfenden Weltbilds einer jeden Lebensform. „Man könnte sich vorstellen“, zitieren sie hierzu Wittgensteins Über die Gewißheit, „dass gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionieren; und dass sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, in dem flüssige Sätze erstarren und fest flüssig werden.“ Die grammatische Haltung schaut auf die gerade erstarrten Sätze, um anhand ihrer akuten Sinn von akutem Unsinn abzugrenzen: Offensichtliches festzustellen wie etwa, dass „Steine nicht denken können“ - aber auch weniger Offensichtliches, wieweit man z.B. sinnvoll von „künstlicher Intelligenz“ reden kann. Auch Kulturwissenschaften oder psychotherapeutische Verfahren schöpfen aus diesem Ansatz.

Aus „pragmatischer“ Sicht verkürzen die Grammatiker damit die Spätphilosophie Wittgensteins. Es ging ihm nicht darum, „Richtiges“ von „Falschem“, erlaubten von nicht-erlaubtem Sprachgebrauch, „Sinn“ von „Unsinn“ abzugrenzen, indem er aufwies und darstellte, was „richtig“, „erlaubt“ oder „sinnvoll“ ist. Wenn Wittgenstein über die Bedeutung von Wörtern spricht, hat dies gemäß der pragmatischen Lesart nicht den Zweck, eine korrekte Bestimmung von Begriffen zu leisten, sondern den, einen intellektuellen Krampf zu lösen, wie er zum Beispiel in folgender Aussage zum Ausdruck kommt: „Was ist denn nun das Wesen von 'gut'? Es muss doch eine bestimmende Eigenschaft geben, sonst ist doch alles relativ!“

Die Diskussion des Begriffes „Sprachspiel“ steht in engem Zusammenhang mit der des Begriffes „Bedeutung“: In den Philosophischen Untersuchungen heißt es in § 42: „Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache.“ Im direkt davor stehenden Satz bemerkt Wittgenstein jedoch einschränkend: „Man kann für eine große Klasse von Fällen der Benützung des Wortes Bedeutung - wenn auch nicht für alle Fälle seiner Benützung - dieses Wort so erklären: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“. Die Deutung dieser Textpassage wirft ein weiteres Schlaglicht auf die unterschiedlichen Zugänge von Pragmatikern und Grammatikern.

Die grammatisch Eingestellten sind der Auffassung, dass Wittgenstein hier eine Bestimmung von „Bedeutung“ (des Wesens des mit dieser Buchstabenkette gekennzeichneten Begriffes) vorgenommen hat. Dementsprechend versuchen sie, eine konsistente Position aus Wittgensteins Werken zu extrahieren. Auch wenn Definitionen, wie sie anerkennen, bei Wittgenstein fast immer nicht „klassisch“ durch die Angabe bestimmender Merkmale erfolgten, sondern indem - oft reihenweise - Veranschaulichendes dargestellt wird, in dessen Ähnlichkeit oder Zusammenklang der bestimmte Begriff dann „erscheine“ (Familienähnlichkeit, ein letztlich offenes Verfahren, das keine scharfen Grenzen vorsehe), würde letztlich auch damit immer etwas - und, das sei sogar Wittgensteins Pointe: auch immer hinreichend - bestimmt. § 42 der Philosophischen Untersuchungen wäre also durchaus als Definition aufzufassen; das einschränkende „nicht für alle Fälle“ sei eher als Index auf weitere Bestimmungen von „Bedeutung“ durch den Autor zu lesen, etwa in Teil II der Philosophischen Untersuchungen, wo Wittgenstein in den Ansätzen einer Philosophie der Psychologie die „sekundäre Bedeutung“ beschreibe als eine bestimmte Form des Erlebens der „primären“, im Gebrauch bestehenden. Da es keine über „primäre“ und „sekundäre“ hinausgehende Verwendung des Begriffs „Bedeutung“ im Spätwerke Wittgensteins gäbe, neigen die Anhänger der „grammatischen Interpretation“ zu der Auffassung, dass Wittgenstein eine andere auch nicht vorsehe und „Bedeutung“ insofern erschöpfend bestimmt habe.

Im Gegensatz dazu vertreten die „pragmatisch“ Eingestellten, dass es Wittgenstein in § 42 keineswegs darum gegangen sei, Kern und Wesen von „Bedeutung“ zu bestimmen. Die Einschränkung „nicht für alle Fälle“ sei kein Verweis auf andere Stellen im Denken des Autors, sondern drücke aus, dass die anschließende Definition keine Allgemeingültigkeit beanspruche, vielmehr dass Wittgenstein sie als Lösungsmittel für bestimmte Geisteskrämpfe (was etwa den Gegenstand, den es geben muss, damit der Begriff „Schmerz“ oder „Vorstellung“ Sinn haben) als hilfreich erachtet. Wie er den Bedeutungsbegriff in anderen Fällen auffasst, ist aus dieser Sicht völlig irrelevant. Gemäß der pragmatischen Haltung lautet die entscheidende Frage nicht, wie sich die verschiedenen Bestimmungen des Bedeutungsbegriffs ergänzen, sondern ob sie im therapeutischen Kontext ihre Funktion erfüllen.

Verhältnis von Früh- zu Spätwerk

Der Widerstreit der Spätphilosophie-Deutungen überträgt sich auch auf die Einschätzung der Kontinuität in Wittgensteins Denken. Die „Pragmatiker“ neigen zur Annahme eines Bruchs zwischen der unbedingten Position der Logisch-philosophischen Abhandlung (Tractatus) und den Entkrampfungsverfahren der Philosophischen Untersuchungen. Für die „Grammatiker“ entspringen beide Werke derselben negative Metaphysik, die sich im Frühwerk als letztliche Gegenstandslosigkeit sinnstiftender Logik („Mein Grundgedanke ist, daß die 'logischen Konstanten' nicht vertreten. Daß sich die Logik der Tatsachen nicht vertreten läßt.“ TLP 4.0312), im Spätwerk in der Unhintergehbarkeit lebensweltlicher Alltragspraxis zeige. Weiters identifizieren sie in Wittgensteins Früh- wie Spätwerk eine gegencartesianische Ablehnung des Dualismus von privater „Innenwelt“ und öffentlicher „Aussenwelt“ sowie des subjektzentrierten Denkens überhaupt, nicht zuletzt durch das Auslassen jeglicher Erkenntnistheorie oder Transzendentalphilosophie.

Werke

  • Ludwig Wittgenstein: Werkausgabe in 8 Bänden Frankfurt am Main,1984 (Preiswerte Taschenbuchausgabe, auch einzeln erhältlich)
  • Ludwig Wittgenstein: Vorlesungen über die Philosophie der Psychologie 1946/47 Frankfurt am Main, 1991 (Vollständige Wiedergabe seiner letzten Vorlesungen, aufgezeichnet von drei von Wittgensteins Hörern; sie vermitteln ein sehr lebendiges Bild von dem ungewöhnlichen Lehrstil; aus dem Englischen)
  • Ludwig Wittgenstein: „Tractatus logico-philosophicus/Logisch-philosophische Abhandlung“ -1959
  • Ludwig Wittgenstein: „Philosophische Untersuchungen“ - 1953
  • Ludwig Wittgenstein: "Über Gewißheit“ - 1970 Suhrkamp

Literatur

Biographien

  • Wilhelm Baum: Ludwig Wittgenstein, Colloquium-Verlag, Berlin 1985, (Köpfe des 20. Jahrhunderts; Bd.; 103), ISBN 3-7678-0645-2
  • Brian McGuinness: Wittgensteins frühe Jahre, Suhrkamp, Frankfurt/M., 1992, ISBN 3-518-28614-5 (sehr ausführlich)
  • Ray Monk: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies, Klett-Cotta, Stuttgart 2004, ISBN 3-608-94280-7 (derzeit die beste Biographie, mit vielen Zitaten aus Briefen und Tagebüchern)
  • Kurt Wuchterl, Adolf Hübner: Wittgenstein. Mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt, Reinbek, 1998, ISBN 3-499-50275-5 (kurz, preiswert, viele Fotos, relativ „leicht“ zu lesen)

Einführungen

  • Chris Bezzel: Wittgenstein zur Einführung, Junius-Verlag, Hamburg 2000, ISBN 3-88506-330-1
  • Ernst M. Lange: Ludwig Wittgenstein. Philosophische Untersuchungen, eine kommentierte Einführung, Schöningh, Paderborn 1998, ISBN 3-8252-2055-9 (behandelt auch Teil II)
  • Howard O. Mounce: Wittgenstein's Tractatus. An Introduction. Blackwell, Oxford 1990, ISBN 0-631-12556-6 (exzellente Einführung für College-Studenten - mit dem Buch hat jeder mal angefangen)
  • Joachim Schulte: Wittgenstein. Eine Einführung, Reclam, Stuttgart 2001, ISBN 3-15-008564-0

Kommentare, Monographien, Sammelbände

  • Gordon P. Baker, Peter M. Hacker: Analytical Commentary on the „Philosophical Investigations“, Blackwell, Oxford 1985ff (mehrere Bände, der wohl gründlichste und umfassendste Kommentar zu den Philosphischen Untersuchungen, allerdings ohne die Behandlung von Teil II - die Autoren sind die Wittgenstein-"Päpste" und zerfielen über ihrem Hauptwerk in die weiter oben "pragmatisch" / "grammatisch" gekennzeichneten Lager)
  • Peter M. Hacker: Wittgenstein im Kontext der analytischen Philosophie, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1997, ISBN 3-518-58242-9 (fundierter Überblick der "grammatischen" Position, die in Wittgenstein einen Erben der agelsächsisch-analytischen Philosophietradition sieht)
  • Gordon P. Baker: Wittgenstein's method. Neglected aspects, essays on Wittgenstein, Blackwell, Oxford 2004, ISBN 1-405-11757-5 (Sammlung zunächst meist in Französisch erschienener Essays zur weiter oben "pragmatisch" gekennzeichneten Position, die Geisteskrämpfe nicht durch Analyse, sondern Umdeutung sie verursachender Bilder anstrebt)
  • Erich Ammereller, Eugen Fischer (Hrsg.): Wittgenstein at work. Method in the philosophical investigation, Routledge, London 2004, ISBN 0-415-31605-7 (Sammelband zur Methode Wittgensteins)
  • Michel Ter Hark: Beyond The Inner And The Outer. Wittgensteins's Philosophy of Psychology, Dordrecht, Kluwer, 1990, ISBN 0-7923-0850-6
  • Duncan Richter: Wittgenstein at His Word, Continuum, London 2004, ISBN 0-8264-7473-X (weitere alternative Interpretation von Wittgensteins Spätphilosphie)

Siehe auch

Weblinks

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