Dies ist ein als lesenswert ausgezeichneter Artikel.

Spanische Grippe

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 28. Februar 2006 um 11:42 Uhr durch Cottbus (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Die Spanische Grippe war eine weltweite Pandemie, welche zwischen 1918 und 1920 durch einen ungewöhnlich virulenten Abkömmling des Influenzavirus (Subtyp A/H1N1) verursacht wurde und mindestens 25 Millionen Todesopfer forderte. In einer Bilanz in der Fachzeitschrift Bulletin of the History of Medicine vom Frühjahr 2002 kamen die Autoren sogar auf knapp 50 Millionen Todesopfer. Die Auswirkung der Pandemie ist damit in absoluten Zahlen mit dem Ausbruch der Pest von 1348 vergleichbar ‒ welcher seinerzeit mehr als ein Drittel der europäischen Bevölkerung zum Opfer fiel ‒ und deutlich verheerender als es AIDS heutzutage ist. Eine Besonderheit der Spanischen Grippe war, dass sie vor allem 20- bis 40-jährige Menschen befiel, während Influenzaviren sonst besonders Kleinkinder und alte Menschen gefährden.

Polizisten in Seattle während der Spanischen Grippe im Dezember 1918.

Die Bezeichnung „Spanische Grippe“

Der spanische König Alfons XIII. gehörte zu den ersten Grippe-Erkrankten

Der Name Spanische Grippe entstand, nachdem die ersten Nachrichten über die Seuche aus Spanien kamen; als neutrales Land hatte Spanien im 1. Weltkrieg eine relativ liberale Zensur, so dass dort im Unterschied zu anderen betroffenen Ländern Berichte über das Ausmaß der Seuche nicht unterdrückt wurden: Nachrichtenagenturen meldeten Ende Mai 1918, dass in ganz Spanien acht Millionen Menschen infiziert waren. In Madrid erkrankte jeder dritter. Büros und Geschäfte mussten geschlossen werden. Die Straßenbahnen stellten ihren Dienst ein. Unter den Erkrankten war auch der spanische König Alfons XIII. und einige seiner Kabinettsmitglieder. Die Agencia Fabra kabelte an Reuters in London:

A Strange Form Of Disease Of Epidemic Character Has Appeared In Madrid. The Epidemic Is Of A Mild Nature, No Deaths Having Been Reported (zit. n. Davies, S. 59)
Übersetzung: Eine merkwürdige Krankheit mit epidemischen Charakter ist in Madrid aufgetreten. Die Epidemie verläuft harmlos, keine Todesfälle bisher gemeldet.

In den anschließenden Presseberichten wurde die Bezeichnung Spanische Grippe gebraucht. In der deutschen Presse durfte zwar nicht über Erkrankungen an der Front berichtet werden, wohl aber ab Anfang Juni 1918 ‒ auch auf den ersten Seiten der Zeitungen ‒ über zivile Opfer. Deutsche Soldaten nannten sie bis dahin „Blitzkatarrh“, britische Soldaten bezeichneten sie als flandrische Grippe. In Spanien selber hatte sich die Bezeichnung „Neapolonischer Soldat“ eingebürgert.

Verlauf der Pandemie

Die Spanische Grippe trat in drei Wellen auf, im Frühjahr 1918, im Herbst 1918 und in vielen Teilen der Welt noch einmal 1919. Die erste Ausbreitungswelle im Frühjahr 1918 wies keine merklich erhöhte Letalität auf. Erst die Herbstwelle 1918 und die spätere, dritte Welle im Frühjahr 1919 waren mit einer außergewöhnlich hohen Letalität verbunden. Zum Höhepunkt der „Herbstwelle“ schätzten die preußischen und die Schweizer Gesundheitsbehörden, dass 2 von 3 Bürgern erkrankt waren.

Im Herbst und Winter 1918 starben weltweit etwa zwischen 25 Millionen und 50 Millionen Menschen. Manche schätzen die Zahl der Verstorbenen deutlich höher auf etwa 70 Millionen Opfer. Die genaue Zahl lässt sich nicht mehr ermitteln, da auch entlegene Regionen davon betroffen waren und in anderen Ländern wie etwa Russland aufgrund der Nachkriegswirren die Zahl der an der Grippe Verstorbenen nicht zuverlässig erfasst wurde. Die amerikanische Armee verlor etwa genauso viele GIs durch die Grippe wie durch die Kampfhandlungen während des Ersten Weltkrieges. Allein in Indien sollen mehr als 17 Mio. Menschen an der Spanischen Grippe gestorben sein, was durch die nachfolgende Volkszählung von 1921 gut belegt erscheint.

Die Zeitspanne von nur einem Jahr für das Auftreten von drei pandemischen Wellen ist eine Besonderheit der Spanischen Grippe. Bei anderen Influenza-Pandemien, wie 1889/90, wurden Abstände von acht bis neun Monaten zwischen den einzelnen Wellen beobachtet. Die Ursache dieser „komprimierten“ Wellen ist unklar. Zahlreiche anekdotische Berichte sowie statistische Daten aus Spanien weisen darauf hin, dass Menschen, die während der ersten Welle erkrankt waren, in der zweiten Welle einen relativen Schutz gegen eine erneute Erkrankung genossen.

Die Letalität dieser Form des Influenzavirus bleibt unklar, da es keine exakten Daten zur Zahl der Erkrankten gibt, wird jedoch höher als 2,5% vermutet. Andere Influenza-Pandemien wiesen eine Letalität unter 0,1% auf. Die Anzahl der weltweit Infizierten wird auf etwa 500 Millionen Menschen geschätzt, was einem Drittel der damaligen Weltbevölkerung entspricht.

Die drei Wellen

Die erste Welle

Seite eines Patientenbuches des „South Beach“-Krankenhauses, 1918

Wo sie zuerst auftrat, ist nicht völlig geklärt. Dies ist weitgehend vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges zu sehen. In den Schützengräben in Europa starben zu dieser Zeit wöchentlich tausende von Soldaten. Sowohl die Presse als auch die lokalen Gesundheitsbehörden konzentrierten sich daher wenig auf die ersten Grippefällen im Frühjahr 1918, zumal während der ersten Welle nur wenig Menschen der Krankheit erlagen. Am verlässlichsten dokumentiert sind die ersten Fällen durch die Lazarettberichte in Ausbildungslagern der US-Armee, wo junge Rekruten für ihren Einsatz in Europa ausgebildet wurden. Sie erwähnen das Auftreten von Grippeerkrankungen für eine Reihe von Militärbasen im März 1918. Im us-amerikanischen Fort Dunston begannen Soldaten an einer schweren Form von Grippe ab dem 4. März krank zu werden. Fort Riley in Kansas meldete eine Häufung von Influenzafällen am 11. März 1918. Die Soldaten bezeichneten die Erkrankung als three-day fever oder knock-me-down fever.

Der Krankheitsverlauf war grundsätzlich heftig und kurz und ging mit starkem Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen einher. Die meisten Erkrankten ging es nach wenigen Tagen wieder besser. Todesfälle waren meist auf eine Lungenentzündung als zusätzliche Komplikation zurückzuführen. In den beengten Verhältnissen in den amerikanischen Ausbildungslagern erkrankten bis zu 90 Prozent der dort versammelten Männer. Die Krankheit griff außerdem ausgehend von den Lagern auf die Zivilbevölkerung über. In den Ford-Werken in Detroit fielen im Frühjahr zeitweise bis zu 1.000 Arbeiter wegen einer Erkrankung an der Grippe aus. Von den 1.900 Insassen im kalifornischen Gefängnis San Quentin erkrankte jeder vierte. Drei von ihnen starben.

In den ersten zwei Wochen im Mai 1918 meldete die britische Marine über 10.000 Krankheitsfälle und sah sich außerstande, auszulaufen. Im Juni wurden zahlreiche Fälle aus China, Neuseeland und den Philippinen gemeldet. Im Hafen von Manila erkrankten über zwei Drittel der Dockarbeiter, so dass Schiffe nicht mehr entladen werden konnten. Der deutsche General Erich Ludendorff beklagte sich darüber, dass er sich jeden Morgen die Krankheitsberichte seiner Heereskommandeure anhören müsste und schob das Versagen der Sommeroffensive auf die niedrige Kampfmoral und den schlechten Zustand seiner Truppen. Als Ursache dafür nannte er die grassierende Grippewelle.

Die Herbstwelle

Der Ausbruch der Herbstwelle

Ein Schaffner verweigert Passagieren ohne Schutzmaske die Mitfahrt. Seattle, 1918

Der Beginn der Herbstwelle lässt sich etwa auf die zweite Hälfte im August 1918 terminieren. Die Krankheit brach mehr oder weniger zeitgleich im US-amerikanischen Stadt Boston, in der französischen Hafenstadt Brest an der Atlantikküste und in Freetown, der Hauptstadt des westafrikanischen Staates Sierra Leone aus. Der Ausbruch in Freetown fällt zeitlich mit dem Einlaufen des britischen Kriegsschiffes HMS Mantua am 15. August zusammen. Bis Ende September waren zwei Drittel der Einwohner von Freetown an der Grippe erkrankt. Auf einhundert Erkrankte kamen drei Todesopfer.

In Boston war die Spanische Grippe mit dem aggressiveren Krankheitsverlauf das erste mal am 27. August unter Marinesoldaten aufgetreten. Der erste zivile Erkrankte wurde am 3. September ins Boston City Hospital eingeliefert. Gut dokumentiert ist der Verlauf der Krankheit in der Militärbasis Camp Devens, das nur dreißig Kilometer westlich von Boston lag. Auf der eigentlich für 35.000 Soldaten ausgelegten Basis befanden sich zu der Zeit 45.000 Soldaten, 5.000 Soldaten hatte man in einem Zeltlager auf dem Gelände der Basis untergebracht. Am 8. September erkrankte der erste Soldat so heftig, dasss man zunächst Meningitis bei ihm vermutete. Bereits am nächsten Tag war ein weiteres Dutzend Männer seiner Einheit erkrankt. Am 23. September lag die Krankenzahl bereits bei 12.604 Soldaten. 63 Soldaten starben an dem Tag. Die Bedingungen, unter denen die Erkrankten gepflegt wurde, können als typisch für zahllose andere Lazarette und Krankenhäuser weltweit gelten, an denen die Spanische Grippe wütete. Obwohl die USA weniger unter den Folgen des Ersten Weltkrieges litt als die europäischen Staaten, fehlte es an Pflegepersonal. Man nutzte jeden verfügbaren Raum, um Krankenbetten aufzustellen. Frisches Bettzeug war Mangelware, so dass die Kranken in schmutzigen und blutbefleckten Laken lagen. Die Toten stapelten sich in den Gängen der Leichenhalle und man kam mit der Beerdigung der Toten kaum nach.

In dem Versuch, die Krankheit einzudämmen, versuchte der Surgeon General of the United States zu erreichen, dass nur die notwendigsten Schiffbewegungen zugelassen wurden. Vor dem Ablegen aus dem Hafen sollten die Schiffe eine Quarantäne durchlaufen, um zu verhindern, dass Kranke an Bord war. Das US-amerikanische Militär wehrte sich allerdings erfolgreich gegen diese Maßnahme, da die in Europa kämpfenden Truppen dringend Verstärkung brauchten. Für die betroffenen Soldaten stellte dies allerdings eine Form von Lotterie dar. Von 100 Soldaten, die an Bord eines Truppentransporters auf dem Weg nach Europa erkrankten, starben sechs. Damit war die Mortalität mehr als doppelt so hoch wie die der an Land erkrankten.

Trotz der eingeleiteten Quarantäne-Maßnahmen breitete sich die Krankheit sehr schnell aus. Die Anzahl der Toten in den USA, die auf die Grippewelle zurückzuführen war, stieg von 2.800 im Monat August auf mindestens 12.000 Tote im September. Ärzte aus den bereits betroffenen Städten im Osten Nordamerikas schickten ihren Kollegen im Westen düstere Mahnungen:

Finden Sie jeden verfügbaren Tischler und Schreiner und lassen Sie sie Särge herstellen. Dann nehmen Sie Straßenarbeiter und lassen Sie sie Gräber ausheben. Nur dann haben Sie eine Chance, dass die Zahl der Leichen nicht schneller steigt als Sie sie beerdigen können. (zit. n. Davies, S. 114)

Innerhalb von weniger als vier Wochen hatte sich die Krankheit bis nach New Orleans, Seattle und San Francisco ausgebreitet. Der Ausbruch der Grippe konnte dabei sehr schnell erfolgen. In einer Militärbasis in Georgia wurden an einem Tag im September 1918 2 Erkrankungen gemeldet und am nächsten 716. Eine der am stärksten betroffenen Städte der USA war Philadelphia, wo an einem einzigen Tag im Oktober 1918 711 Menschen der Krankheit zum Opfer fiel. Da die städtische Leichenhalle für maximal 36 Tote ausgelegt war, musste man die Toten vierreihig in Korridoren und Räumen lagern.

Verlauf der Krankheit weltweit

So wie in Nordamerika verbreitete sich die Krankheit weltweit. Die Auswirkungen in Europa wurden dabei weniger aufmerksam verfolgt. Mehr im Fokus der Presse und der öffentlichen Aufmerksamkeit standen nach wie vor der Erste Weltkrieg. Stark betroffen waren aber auch Südamerika, Asien, Afrika und die pazifischen Inseln. In Indien war die Mortalitätsrate mit geschätzten fünf Toten je hundert Erkrankten besonders hoch. Neuseeland wurde von der Grippewelle vor allem im November 1918 heimgesucht, als die ersten Truppen zurückkehrten. In Neuseeland starben 8.600 Menschen an der Krankheit, mehr als doppelt soviele wie an neuseeländischen Soldaten im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Auf der Höhepunkt der Krise kam das gesamte öffentliche Leben zum Erliegen. Besonders stark betroffen waren die Maori. Ähnlich wie bei den Inuit in Alaska und Kanada war unter ihnen Anzahl der Todesopfer besonders hoch. In den entlegen gelegenen Maori-Gemeinschaften kam der Krankheitsausbruch meist ohne jede Vorwarnung. Häufig waren so viele betroffen, dass niemand mehr zur Verfügung stand, der die Kranken pflegte oder die Toten begrub. Ähnlich dramatisch war der Verlauf auf Samoa, wo ein Fünftel der Bevölkerung oder 7.500 Menschen starben.

Das Krankheitsbild der Herbstwelle

Die Krankheit verlief während der Herbstwelle oft sehr schnell, mit plötzlich einsetzendem hohen Fieber samt Schüttelfrost, starken Kopf- und Gliederschmerzen, Husten und starken Reizungen im Hals und Rachenbereich. In manchen Fällen wurde auch Nasenbluten beobachtet. Während manche Patienten nur schwache Symptome entwickelten und sich ohne Komplikationen erholten, verstarb manch Anderer binnen Stunden an einer sich schnell entwickelnden hämorrhagischen, also von starken Blutungen begleitete Lungenentzündung. Oftmals zeigten sich auch Symptome einer normalen Influenza, bei der sich jedoch eine bakterielle Lungenentzündung bildete, die ebenfalls häufig zum Tode führte. Häufig wurde eine begleitende, bläulich-schwarze Verfärbung der Haut beobachtet, die vom Mangel an Sauerstoff rührte.

Überlebende waren oft Wochen von starker Müdigkeit und chronischer Erschöpfung gezeichnet, nicht selten traten auch Depressionen als Folgeerscheinung auf. Wer eine Lungenentzündung überlebte, dem stand gar eine langwierige und mühsame Rekonvaleszenz bevor. Die Geschwindigkeit, in welcher die Spanische Grippe um sich griff, spiegelt sich in makaberer Weise in einem Kinderreim dieser Tage wider:

„I had a little bird,
Its name was Enza.
I opened the window
and in-flu-enza“

Zahlreiche anektdotische Berichte weisen darauf hin, dass der Tod bei einer Erkrankung sehr schnell eintreten konnten. Von vier Damen, die sich abends noch zum Bridgespielen trafen, lebten am nächsten Morgen nur noch drei.

Reaktionen und Gegenmaßnahmen

Wegen des fulminanten Krankheitsverlaufs bezweifelten anfangs einige Forscher, dass es sich bei der Spanischen Grippe überhaupt um eine Form der Influenza handele. Unter anderem wurde als Auslöser der Pandemie eine Form der Lungenpest vermutet. Schon zu dieser Zeit wurde im Übrigen im medizinischen Schrifttum von „Viren“ geredet, damals allerdings im Sinne von „Krankheitserreger“ oder „Gift“. Dass es sich im heutigen Sinne um Viren handelte, wurde erst durch die Isolation von Influenza-Viren im Jahr 1933 entschieden.

In der Öffentlichkeit kursierten eine Reihe unterschiedlicher Gerüchte über die Entstehung der Krankheit. US-Amerikaner vermuteten hinter dem Grippeausbruch der Verzehr von Fisch, der vom deutschen Kriegsgegner vergiftet worden sei, sahen den Staub ebenso als Krankheitsursache wie unsaubere Pyjamas oder zu leichte Kleidung, zogen geschlossene Fenster genauso in Erwägung wie offene oder den unvorsichtigen Umgang mit alten Büchern und schlossen auch kosmischen Einfluss nicht aus.

Bereits sehr frühzeitig waren in einigen Ländern von den Gesundheitsbehörden Quarantäne-Maßnahmen eingeleitet worden. Bereits in der zweiten Augusthälfte 1918 hatte der Surgeon General of the United States angeordnet, dass die Gesundheitsbehörden in den USA in allen Häfen Schiffe mit Erkrankten an Bord unter Quarantäne stellen sollte. Aufgrund der Kriegsanstrengungen erwies sich das jedoch als wenig durchführbar. In Toronto veröffentlichte ein Dr. Hastings, Angestellter der Gesundheitsbehörde, Ratschläge, wie eine Ansteckung zu vermeiden sei. Dazu gehörte die Empfehlung, Menschenmengen zu meiden, Mund, Haut und Kleider immer reinlich zu halten und die Fenster möglichst viel geöffnet zu lassen. Man sollte sich kühl halten, wenn man zu Fuß unterwegs war und warm, wenn man fuhr oder schlief. Hände sollten vor dem Essen gewaschen und das Essen gut gekaut werden. Die Ansammlung von Verdauungsprodukten im Körper sollte vermieden werden, nach dem Aufstehen sollte man direkt ein oder zwei Gläser Wasser trinken. Handtücher, Servietten und Besteck, das von anderen benutzt wurde, sollte man meiden. Ebenso sollte man auf zu enge Kleidung, Schuhe oder Handschuhe verzichten (zit. n. Davies, S.115)

In New York stellte man das Spucken auf der Straße unter Strafe. Allein 500 Personen wurden verhaftet, weil sie dagegen verstießen. Andere Städte ordneten das Tragen von Masken an und drohten mit Geldstrafen denen, die dagegen verstießen. In Atlanta wies eine Mrs. Hunnicutt darauf hin, dass schwere Seidenschleier einer Frau viel besser stünden. Werbungen in den Zeitungen priesen Feigensirup oder Eukalyptussalben als Heilmittel an. Antiseptische Sprays sollten Mund und Nase rein halten.


In Deutschland und anderen kriegsführenden Staaten wurde die Influenza häufig als Kriegsseuche interpretiert, allerdings erwies sie sich auch in neutralen Staaten, wie Spanien oder der Schweiz, als überaus tödlich. Mit der Ernährungslage scheint es ebenfalls keinen Zusammenhang gegeben zu haben, jedenfalls fiel damaligen Ärzten auf, dass ausgerechnet wohlgenährte Menschen besonders gefährdet waren.

Statistische Anomalien

Zelte auf dem Rasen des Emery Hill in Lawrence, Massachusetts zur Behandlung der Opfer der Spanischen Grippe. 29. Mai 1919.

Die Mortalität bei Influenza-Fällen ist üblicherweise eine U-förmige Kurve, deren Maxima in den sehr jungen und sehr alten Bevölkerungsschichten liegen. Die Mortalität der Spanischen Grippe ist hingegen eine W-förmige Kurve; eine Eigenart, wie sie auch schon bei der Pandemie von 1889/90 beobachtet wurde. Das dritte, atypische Maximum liegt im Bereich der 20- bis 40-jährigen. Insgesamt werden die Todesfälle der 20–40-jährigen auf nahezu die Hälfte der gesamten Pandemietoten geschätzt. Als weitere Einzigartigkeit der spanischen Grippe lag die Mortalität bei Personen unter 65 Jahren deutlich höher als bei der Bevölkerung über 65; etwa 99% der Toten entfielen auf die erste Gruppe, gegenüber 36% und 48% bei den Pandemien von 1957 und 1968.

Eine mögliche Erklärung dieser Anomalien ist ein vor 1889 kursierendes Virus, welches eine teilweise Immunisierung bewirkte. Ein Problem dieser Vermutung ist jedoch, dass dieses Vorgänger-Virus um 1889 verschwunden, über 30 Jahre später jedoch wieder aufgetaucht sein müsste.

Gemäß Gibbs et al. in der Spektrum der Wissenschaft von Januar 2006 war ein Faktor bei der ungewöhnlichen Verteilung auch die durch den Virus induzierte, atypisch starke Zytokin-Aktivität. Die Überreaktion des Immunsystems in Form eines „Zytokinsturms“ veranlasst Abwehrzellen zu einem Angriff auf das Lungengewebe. Da gerade die Gruppe der 20- bis 40-jährigen über ein besonders aktives Immunsystem verfügt, ist hier die Ausprägung des Zytokinsturms besonders stark.

Langfristige Auswirkungen

Als Folge der Influenza-Infektion litten viele Menschen für den Rest ihres Lebens an neurologischen Funktionsstörungen, unter anderem wurde eine nennenswerte Häufung von Fällen der Enzephalitis Lethargica (EL) beobachtet. Hierbei handelt es sich um eine Form der Hirnhautentzündung, die Lethargie, unkontrollierte Schlafanfälle und eine temporäre, der Parkinson-Krankheit ähnliche Störung auslöst.

Ein direkter Zusammenhang der EL mit der Spanischen Grippe ist jedoch nicht bewiesen worden. In von McCall et al. 2001, sowie Lo und Geddes 2003 untersuchten Gewebeproben fanden sich keine Hinweise auf das Influenza-Virus. Im Spielfilm Awakenings (deutsch: Zeit des Erwachens) mit Robert de Niro und Robin Williams wurde diese Krankheit 1990 auf der Grundlage des gleichnamigen Buches von Oliver Sacks thematisiert. Hintergrund des Filmes waren die kurzzeitigen Therapieerfolge Anfang der 1970er Jahre gegen die neurologischen Spätfolgen der Pandemie bei einigen Patienten nach dem Einsatz von L-Dopa.

Rekonstruktion und Analyse der RNA-Sequenz des Virus

Virionen des rekonstruierten Virus der spanischen Grippe, 18 Stunden nach Infektion der Kultur.

1951 hatte der damalige Doktorand und später als Pathologe tätige Johan Hultin Gewebeproben aus einem Massengrab von Grippeopfern im Permafrostboden von Alaska exhumiert, jedoch keine Influenzaviren nachweisen können. 1997 beschaffte er sich eine Erlaubnis der auf der Halbinsel Seward gelegenen Gemeinde zur erneuten Exhumierung. Von vier Toten wurden Proben aus dem Lungengewebe entnommen, aus einer davon konnten Genfragmente der Grippeviren isoliert werden. Schließlich gelang es, das komplette Genom des Erregers der Spanischen Grippe zu sequenzieren. Dieselbe Forschergruppe des Instituts für Pathologie der US-Streitkräfte in Rockville isolierte zudem 1996 und 1997 Teile des Grippevirus aus unterschiedlichen Gewebeproben, die von der US-Armee aus dem Ersten Weltkrieg aufbewahrt wurden.

Im Jahr 2003 konnte durch Reid et al. bestätigt werden, dass das Virus zu den Influenza-A-Viren gehörte, von denen auch das Vogelgrippevirus vom Typ A/H5N1 abstammt. 2004 haben Gamblin et al. durch Strukturanalyse des Hämagglutinins H1 gezeigt, wie das Virus der Spanischen Grippe an menschliche Zellen bindet.

Im Oktober 2005 berichteten US-amerikanische Wissenschaftler, dass sie in einem Hochsicherheitslabor des CDC (Center for Disease Control and Prevention) in Atlanta das Virus von 1918 rekonstruiert haben. Ihre Forschungsarbeiten wurden am 6. Oktober 2005 zusammen mit der kompletten Gensequenz in den Fachzeitschriften Science und Nature veröffentlicht.

Die Forscher kamen aufgrund ihrer Analysen zu dem Schluss, dass das menschliche Influenza-Virus direkt von einem Vogelgrippevirus abstamme und der Übergang auf den Menschen wahrscheinlich erst unmittelbar vor Beginn der Pandemie stattgefunden habe. Aufgrund der großen Ähnlichkeit mit bekannten Varianten der Geflügelpest vertreten sie ferner die Meinung, dass das Virus seine Gefährlichkeit als Folge weniger Mutationen erzielt habe und nicht durch einen Austausch von Erbanlagen mit bereits zuvor vorhandenen Varianten der menschlichen Influenza, d.h. nicht durch eine Reassortierung (zum Begriff der genetischen Reassortierung siehe unter Influenza).

In Tierversuchen erwies sich das rekonstruierte Virus (wie aufgrund der hohen Todesraten der Epidemie von 1918 zu erwarten war) als extrem aggressiv: Es tötete Mäuse rascher als jedes andere bisher bekannte Influenza-Virus des Menschen und war ‒ im Unterschied zu den meisten menschlichen Influenza-Viren ‒ auch für Hühnerembryos tödlich. Im Gegensatz zu anderen Experimenten mit Mäusen musste das rekonstruierte Virus hierzu nicht erst an Mäuse angepasst werden. Dies zeigt, dass die Proteine Hämagglutinin wie auch möglicherweise die Neuraminidase des Virus Virulenzfaktoren für Mäuse enthalten. Seine Polymerase-Gene ähnelten denen von A/H5N1 und anderer Geflügelpest-Viren. Außerdem erwies es sich als äußerst vermehrungsfreudig in Epithelzellen aus menschlichen Bronchien, was im funktionstüchtigen Organ zur Lungenentzündung führen würde. Zusätzlich ist es in der Lage, anders als heute kursierende Influenza-Viren, sich ohne Trypsin vermehren zu können, was einen bisher unbekannten Mechanismus der Neuraminidase voraussetzt, der die Abspaltung des Hämagglutinin vereinfacht.

Bisher war das lebende Virus nur für einen Wissenschaftler am CDC zugänglich gemacht worden. Seit Ende Oktober 2005 verschickt das Center for Disease Control and Prevention das Virus der Spanischen Grippe an alle interessierten Labore der Sicherheitsstufe 3.

Liste bekannter Opfer

Literatur

  • Anonymus: Neues über die Grippe-Pandemie von 1918. In: Deutsche Apotheker Zeitung. 140(22), Stuttgart, S. 46 ff., ISSN 0011-9857
  • John M. Barry: The Great Influenza. The Epic Story of the Deadliest Plague in History. Penguin Books, New York 2004, ISBN 0-670-89473-7
  • Pete Davies: Catching Cold - The Hunt for a Killer Virus, Pinguin Books, London 1999, ISBN 014-02-7627-0
  • Gina Kolata: Influenza. Fischer Taschenbuchverlag, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3596153859 (Ersterscheinung gebunden: 2001)
  • Susanne Modrow / Dietrich Falke: Molekulare Virologie, Spektrum Verlag, ISBN 3-86025-274-7
  • Characterization of the 1918 influenza virus polymerase genes. In: Nature 437, 889-893 (6 October 2005) [1]
  • Characterization of the Reconstructed 1918 Spanish Influenza Pandemic Virus. In: Science 7 October 2005. Vol. 310. no. 5745, pp. 77–80, [2]
  • 1918 Influenza Pandemic Caused by Highly Conserved Viruses with Two Receptor-Binding Variants, Ann H. Reid, et al in Emerging Infectious Diseases. Vol. 9, No. 10, Oktober 2003
  • Jeffery K. Taubenberger, Ann H. Reid, Thomas G. Fanning: Das Killervirus der Spanischen Grippe. In: Spektrum der Wissenschaft, April 2005, S. 52–60 (2005), ISSN 170-2971
  • Jefferey K. Taubenberger, David M. Morens: 1918 Influenza: the Mother of All Pandemics, In: Emerging Infectious Diseases, Vol. 12, No. 1, Januar 2006
  • Stefan Winkle: Kulturgeschichte der Seuchen. Artemis & Winkler, 1997, S. 1045 ff, ISBN 3-933366-54-2

Siehe auch

Weblinks