Dies ist ein als lesenswert ausgezeichneter Artikel.

Neuschwanstein (Meteorit)

aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie
Dies ist eine alte Version dieser Seite, zuletzt bearbeitet am 20. Januar 2008 um 11:27 Uhr durch Ticketautomat (Diskussion | Beiträge). Sie kann sich erheblich von der aktuellen Version unterscheiden.
Zur Navigation springen Zur Suche springen
Meteoritenfragment Neuschwanstein I
Fall von Neuschwanstein; Computergrafik nach visuellem Eindruck

Der Fall des Meteoriten Neuschwanstein ereignete sich am 6. April 2002 um 22:20:18 MESZ bei Füssen in Bayern in der Nähe von Schloss Neuschwanstein in deutsch-österreichischem Grenzgebiet. Der ursprüngliche Meteorit zerbarst in einer Höhe von etwa 22 Kilometern über dem Erdboden in mehrere Fragmente, welche über einem mehrere Quadratkilometer großen Gebiet niedergingen. Bisher konnten drei dieser Fragmente mit einer Gesamtmasse von rund sechs Kilogramm geborgen werden. Neuschwanstein wurde als Enstatit-Chondrit (Typ EL6) klassifiziert und gilt als der erste Meteorit in Deutschland (und als der vierte weltweit), der aufgrund simultaner fotografischer Aufzeichnungen aufgefunden werden konnte.

Meteoritenfall und Aufzeichnung

3D-Triangulation der atmosphärischen Flugbahn von Neuschwanstein durch die Feuerkugelstationen Streitheim, Gahberg und Primda (Norden befindet sich am linken Bildrand)

Die 90,6 Kilometer lange Leuchtspur des Meteors innerhalb der Atmosphäre begann in einer Höhe von rund 85 Kilometern und endete 16,04 Kilometer über der Erdoberfläche. Kurz vorher, in einer Höhe von etwa 22 Kilometern, am so genannten Hemmungspunkt, zerplatzte der Bolide, und die kurz nachglühenden Fragmente gingen in die so genannte Dunkelflugphase über: Sie stürzten ohne weitere Leuchterscheinungen im freien Fall herab, wobei die Flugbahnen der einzelnen Bruchstücke durch Winddrift in den unteren Atmosphärenschichten (Troposphäre) entgegen die ursprüngliche Flugrichtung abgelenkt wurden. Neuschwanstein hatte eine Eintrittsgeschwindigkeit in die Erdatmosphäre von 20,95 km/s und wurde durch Luftreibung auf ca. 2,4 km/s (beim Übergang in die Dunkelflugphase) heruntergebremst. Der Eintrittswinkel betrug etwa 49° zur Erdoberfläche.

Dem Europäischen Feuerkugelnetz gelangen Aufzeichnungen des Falls mit mehreren Feuerkugel-Stationen, u. a. mit der Station Streitheim bei Augsburg, Primda (Tschechische Republik) und Gahberg (Österreich). Mit Hilfe dieser Stereoaufzeichnung (durch Triangulation) konnte die Flugbahn von Neuschwanstein unter Einbezug der damaligen Windverhältnisse ziemlich exakt rekonstruiert werden. Da jedoch die Flugbahnen der Einzelfragmente nicht genauer präzisiert werden konnten, ermittelte man ein mehrere Quadratkilometer umfassendes Niedergangsgebiet (so genannte Streuellipse) im deutsch-österreichischem Grenzgebiet zwischen Füssen und Garmisch-Partenkirchen.[1]

Medienecho und Augenzeugenberichte

Bemerkenswert war das Medienecho, das der Fall dieses Meteoriten verursachte. Bayernweit meldeten besorgte Bürger die helle Lichterscheinung telefonisch der Polizei. Im südlichen Bayern, insbesondere im Großraum Garmisch-Partenkirchen, wurde ein lautes „Trommeln“ und Donnergrollen sowie zitternde Fensterscheiben wahrgenommen. Noch über 200 Kilometer entfernt war durch die Helligkeit des Meteors mitten in der Nacht Schattenwurf an Bäumen erkennbar. In einigen Kilometern Höhe zerplatzte der Bolide und etwa ein halbes Dutzend gelb-orange nachglühender Fragmente regneten in parabelförmiger Flugbahn herab. Die Gesamtdauer des Schauspiels betrug etwa sechs Sekunden. Als nach wenigen Wochen feststand, in welcher Region die Meteoritenfragmente niedergegangen waren, setzte ein Ansturm von Meteoritenjägern auf das Gebiet rund um Neuschwanstein, Füssen und das Ammergebirge ein.

Analyse der heliozentrischen Umlaufbahn

Aus den Datenaufzeichnungen des Europäischen Feuerkugelnetzes konnte die Umlaufbahn des Meteoroiden um die Sonne zurückberechnet werden. Es zeigte sich, dass diese nahezu exakt mit der Bahn des Meteoriten Přibram übereinstimmte, dessen Fall bereits am 7. April 1959 in der damaligen Tschechoslowakei aufgezeichnet worden war. Es liegt daher nahe, dass beide Meteoriten vom gleichen Mutterkörper stammen könnten. Přibram ist jedoch ein gewöhnlicher Chondrit. Ein Vergleich der kosmogenen Isotope der beiden Steine ergibt für Neuschwanstein ein Alter von 48 Millionen Jahre, für Přibram dagegen 12 Millionen Jahre.[2] Ein gemeinsamer Mutterkörper müsste also heterogener Natur sein. Es könnte sich dann allenfalls um einen nur von der Gravitation zusammengehaltenen „Schutthaufen“ (engl. rubble pile) handeln, welcher durch eine Kollision mit einem weiteren Himmelskörper zersprengt wurde.[3][4][5][6]

Funde und Analysen

Die Expertenexpedition durch das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) am 1. Mai 2002, welche zunächst noch durch die winterliche Witterung verzögert wurde, galt dem potentiellen Hauptfragment des Meteoriten (damals auf etwa sieben Kilogramm geschätzt), welches aber auch nach intensiver Suche nicht gefunden werden konnte. Es wurde am Südhang des Hohen Straußberg nahe Neuschwanstein oder an der Nordflanke des Ochsenälpeleskopf vermutet. Insgesamt schätzte das DLR die ursprüngliche Gesamtmasse des Meteoroiden auf etwa 300 Kilogramm, von denen letztlich etwa 20 Kilogramm den Erdboden erreicht hätten.

Neuschwanstein I

Nach einer einwöchigen Suche im Zielgebiet gelang zwei Berliner Amateurastronomen schließlich am 14. Juli 2002 der erste Fund: Ein 1750 Gramm schweres Bruchstück des Meteoriten lag nur etwa zwei Kilometer vom vorausberechneten Landepunkt des Hauptfragments und nur 400 Meter seitlich der berechneten Flugbahn des Meteors (Koordinaten des Fundortes: Koordinaten fehlen! Hilf mit.unbenannte Parameter 1:47_31_N_10_48_E_type:landmark_region:DE-BY, 2:47° 31' N, 10° 48' O , 1650 m ü. N.N.). Es wurde wegen der Nähe zum bekannten Schloss auf den Namen „Neuschwanstein“ getauft. Der Meteorit wurde daraufhin am Max-Planck-Institut für Chemie in Mainz und für Kernphysik in Heidelberg chemisch bzw. petrologisch untersucht: Er ist der Gruppe der Enstatit-Chondriten zuzuordnen, einer sehr seltenen Gruppe von Chondriten. Durch Messungen der natürlichen Radioaktivität konnte bestätigt werden, dass es sich tatsächlich um ein Bruchstück des im April gefallenen Meteoriten handelte. Somit konnte in Deutschland zum ersten Mal ein Meteorit aufgrund von fotografischen Aufzeichnungen und Modellrechnungen geborgen werden. Neuschwanstein I kann im Rieskrater-Museum in Nördlingen besichtigt werden.

Neuschwanstein II

Am 27. Mai 2003 wurde ein weiteres Meteoritenstück von zwei jungen Männern aus Oberbayern entdeckt (Koordinaten: Koordinaten fehlen! Hilf mit.unbenannte Parameter 1:47_32_N_10_48_E_type:landmark_region:DE-BY, 2:47° 32' N, 10° 48' O , 1491 m ü. N.N.), nachdem sie bereits mehrere Wochen mit der Suche verbracht hatten. Das etwa faustgroße Fundstück wog 1625 Gramm. Es schlug wahrscheinlich mit hoher Geschwindigkeit (rund 250 km/h) auf die Erdoberfläche auf und drang in den Waldboden ein. Die Finder mussten es aus einer fünf Zentimeter tiefen Mulde bergen. Da das Fragment über ein Jahr lang im feuchten Bergwaldboden steckte, wies es Korrosionsspuren (Rostflecken) auf.

Neuschwanstein III

Fast genau einen Monat später, am 29. Juni 2003, konnte das bislang letzte und mit 2843 Gramm auch bisher größte Meteoritenfragment geborgen werden. Es lag auf einer steilen Geröllhalde, an der Nordflanke des Altenbergs im österreichischen Tirol (Koordinaten: Koordinaten fehlen! Hilf mit.unbenannte Parameter 1:47_31_N_10_49_E_type:landmark_region:AT-7, 2:47° 31' N, 10° 49' O , 1631 m ü. N.N.). [7] Ein deutscher Physiker hatte seine Lage durch eigene Berechnungen und Computersimulationen ermittelt .[8] Ein Formfaktor bei der Berechnung der Winddrift während der Dunkelflugphase wurde in den ersten Analysen durch das DLR falsch einkalkuliert. Nach Auswertung der ersten beiden Funde wurde dieser jedoch korrigiert, was nach erneuten Modellrechnungen zum Fund von Neuschwanstein III führte. Man geht inzwischen davon aus, dass weit weniger Material den Boden erreicht hat, als ursprünglich angenommen. Deshalb wird Neuschwanstein III mittlerweile als Hauptmasse des Meteoriten angesehen.[9]

Rechtliche Situation

Um das dritte, Neuschwanstein III genannte Meteoriten-Fundstück entbrannte ein ungewöhnlicher Rechtsstreit: Da sich der Fundort im Gebiet der österreichischen Gemeinde Reutte in Tirol befand, beanspruchte die Gemeinde Reutte das Eigentum an dem Fundstück und legte Klage beim Landgericht Augsburg auf Herausgabe des Meteoriten ein. Das deutsche Gericht wies die Klage am 6. Juni 2007 unter Anwendung österreichischen Rechts ab: Es handle sich bei dem Fundstück nicht um einen Schatz, sondern um einen herrenlosen Gegenstand. Auch sei es kein sogenannter Zuwachs, an welchem die Gemeinde automatisch einen Eigentumsanspruch habe.[10] Damit wurden sämtliche Eigentumsrechte in erster Instanz dem Finder zugesprochen. Der Bürgermeister von Reutte veranlasste danach die Revision des Falles am Oberlandesgericht München. Im Januar 2008 verständigten sich beide Parteien auf einen Vergleich, in dessen Rahmen der Finder von Neuschwanstein III an Reutte eine Ausgleichszahlung entrichtete und die Gerichtskosten übernahm. Im Gegenzug konnte er dafür aber das Meteoritenfragment behalten, dessen Streitwert auf etwa 250.000 Euro beziffert wurde.[11]

An den beiden in Deutschland gefundenen Stücken Neuschwanstein I und Neuschwanstein II hatte zuvor der Freistaat Bayern Miteigentum beansprucht, indem er sie nach deutschem Recht als Schatz (§ 984 BGB) wertete. [12] Es kam schließlich zu außergerichtlichen Übereinkünften: Während Bayern den Findern von Neuschwanstein I ihren Anteil abkaufte, und das Stück so komplett erhalten blieb, konnte die Finderhälfte des Neuschwanstein II-Fragments aufgrund Geld- und Interessenmangels seitens des Freistaats nicht aufgekauft werden. Daraufhin musste der Meteorit tatsächlich geteilt werden. Er wurde somit unwiderruflich zerstört. Die Finder haben ihren Anteil in der Folge weiter geteilt, und Proben an Museen, Institutionen und private Sammlungen verkauft. Die andere Hälfte befindet sich im Besitz der Mineralogischen Staatssammlung München.

In den wenigsten Ländern gibt es juristische Regelungen zu Meteoritenfunden. Von entscheidender Bedeutung ist hierbei, ob ein Meteorit auf Privatgrund oder in öffentlich zugänglichem Gelände gefunden wird, wie es bei Neuschwanstein der Fall war. Zumindest beim Fund in öffentlichem Gelände ist ein (Mit-)eigentum des Finders unstrittig. Bemerkenswert ist, dass die Reste des Neuschwanstein-Meteoriten in erster Linie durch die enorme wissenschaftliche Bedeutung und sein seltenes Material, wohl aber auch durch seine Medienwirksamkeit einen beachtlichen finanziellen Wert erhalten haben. Insofern wurden die Fragmente I und II nach einem Gutachten des bayerischen Wissenschaftsministeriums als „schatzähnlich“ eingeordnet, obwohl sie nach § 984 BGB diese Definition nicht ganz erfüllten, da sie weder einen Vorbesitzer hatten, noch lange im Verborgenen gelegen waren. Ähnlich unklar ist die Situation auch nach österreichischem Recht. Dort ist das Sammeln von Mineralien in freier Natur aber erlaubt, sofern dafür kein Bergungsgerät eingesetzt wird.[13]

Siehe auch

Literatur

  • R. Hochleitner, D. Heinlein: Neuschwanstein, der Meteorit aus den bayerischen Alpen, Herausgeber: Kulturstiftung der Länder, Staatliche Naturwissenschaftliche Sammlungen Bayerns. München, 2003. ISBN 3-89937-040-6
  • Dieter Heinlein: Die Feuerkugel vom 6. April 2002 und der sensationelle Meteoritenfall „Neuschwanstein“, 1. Auflage, Herausgeber: Dieter Heinlein. Augsburg, 2004
  • Dieter Heinlein: „Meteoritenfall in den bayerischen Alpen“, in Sterne und Weltraum, Seite 66–67 (6/2002)
  • Florian Schweidler: „Der Bolide von 6. April 2002“, in Sterne und Weltraum, Seite 52 (8/2002)
  • Dieter Heinlein: „Die Suche nach dem Alpen-Meteoriten“, in Sterne und Weltraum, Seite 68–69 (9–10/2002)

Weblinks

Einzelnachweise

  1. P. Spurný, D. Heinlein, J. Oberst: „The atmospheric trajectory and heliocentric orbit of the Neuschwanstein meteorite fall on April 6, 2002“ in Proceedings of Asteroids, Comets, Meteors – ACM 2002, S. 137–140, ESA Publications Division, ISBN 92-9092-810-7 [1]
  2. Hans Zekl: „Neuschwanstein und Příbram: zwei ungleiche Brüder“, für astronews.com (13. Mai 2003) Neuschwanstein und Příbram: zwei ungleiche Brüder
  3. DLR – Institut für Planetenforschung – Meteor Neuschwanstein
  4. J. Oberst, D. Heinlein, U. Köhler, P. Spurný: „The multiple meteorite fall of Neuschwanstein: Circumstances of the event and meteorite search campaigns“, in Meteoritics & Planetary Science, Vol. 39, No. 10, S. 1627–1641 (10/2004) [2]
  5. P Spurný, J. Oberst, D. Heinlein: „Photographic observations of Neuschwanstein, a second meteorite from the orbit of the Příbram chondrite“, in Nature, Vol. 423, No. 6936, S. 151–153 (05/2003) [3]
  6. „Verwandtschaft in der Asteroidenfamilie“, in MaxPlanckForschung 4/2002 [4]
  7. DLR – Institut für Planetenforschung – Meteoritenfunde Neuschwanstein
  8. Spiegel online, 6. Juli 2007: Meteorit „Neuschwanstein 3“ gehört dem Finder.
  9. Dieter Heinlein, Dr. Karl Wimmer: „Neuschwanstein – Ein Meteoritenfall voller Überraschungen“, in Sterne und Weltraum, Seite 40–44 (4/2004)
  10. sueddeutsche.de, 6. Juli 2007: Österreicher gehen leer aus. Ein Meteorit und sein Zuhause.
  11. 11. Januar 2008: Meteoritenbrocken bleibt beim Finder
  12. Kristine Faust: „Wem gehört Neuschwanstein?“ in Aviso 3/2003, S. 28–31. ISSN 1432-6299 [5]
  13. Dieter Heinlein: „Rechtsstreit um Himmelsgestein“, in Sterne und Weltraum, Seite 19–20 (10/2007)