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Vertrag von Lissabon

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Der Vertrag von Lissabon (ursprünglich auch EU-Grundlagenvertrag bzw. -Reformvertrag genannt) soll der Europäischen Union eine einheitliche Struktur und Rechtspersönlichkeit geben und den abgelehnten Vertrag über eine Verfassung für Europa (VVE) ersetzen. Beim EU-Gipfel am 18. und 19. Oktober 2007 einigten sich die Staats- und Regierungschefs auf den endgültigen Vertragstext, der am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet wurde. Bis Ende 2008 sollte der Vertrag durch alle Mitgliedstaaten ratifiziert sein, so dass er am 1. Januar 2009 hätte in Kraft treten können. Jedoch wurde der Reformvertrag von Irland am 12. Juni 2008 in einem Referendum abgelehnt. Während in den übrigen 26 EU-Mitgliedstaaten eine Ratifizierung des Vertrags allein durch eine (zustimmende) Abstimmung ihrer nationalen Parlamente erfolgt, ist Irland der einzige EU-Mitgliedstaat, in dem jegliche Änderung der EU-Verträge einer Abstimmung durch ein Referendum bedarf.

Logo der Regierungskonferenz zum Vertrag von Lissabon

Struktur

Mit dem Mandat[1] für die Regierungskonferenz über den Reformvertrag wurde das Verfassungskonzept, wonach alle bestehenden EU-Verträge aufgehoben und durch einen einheitlichen Text mit der Bezeichnung „Verfassung“ ersetzt werden sollten, ausdrücklich aufgegeben. Stattdessen wurde die Substanz der Regierungskonferenz 2004 (d. h. des EU-Verfassungsvertrags) in die bereits existierenden EU-Verträge eingearbeitet.

Der Vertrag von Lissabon ist daher ein „Änderungsvertrag“, der im Wesentlichen aus den beschlossenen Veränderungen an den bisherigen Verträgen besteht; sein offizieller Name lautet dementsprechend „Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007“ (ABl 2007/C 306/01). Er ist folgendermaßen gegliedert:

I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
   Präambel
Änderungen des EU-Vertrags (Artikel 1)
Änderungen des EG-Vertrags (Artikel 2)
Schlussbestimmungen (Artikel 3 bis 7)
Protokolle
Anhang (Übereinstimmungstabellen zur durchgehenden Neunummerierung gemäß Artikel 5)

Die EU wird somit künftig weiterhin auf mehreren Verträgen beruhen. Am bedeutendsten sind davon der Vertrag über die Europäische Union (Vertrag von Maastricht, EUV) und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (Vertrag von Rom, EGV), welcher nun in „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) umbenannt wird. Diese Namensänderung ergab sich, da durch die veränderte Struktur der EU nach dem neuen Vertrag die „Europäische Gemeinschaft“ nicht mehr als Institution mit eigenem Namen existieren wird; all ihre Funktionen werden von der EU übernommen.

Neben den beiden Hauptverträgen sind noch weitere Dokumente Bestandteil des EU-Primärrechts. Dabei handelt es sich um:[2] [3] [4] [5]:

  • 37 Protokolle
  • 2 Anhänge
  • 65 Erklärungen
  • Charta der Grundrechte
  • Erläuterungen zur Charta der Grundrechte

Dass die Protokolle und Anhänge Bestandteil der Verträge sein sollen, ist in EUV Art 51 (Lissabon-Version) definiert. Dass die Charta der Grundrechte und gleichrangig die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte gelten, legt u. a. EUV Art 6 Abs 1 (Lissabon-Version) fest. Da die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte auch Negativdefinitionen zur Charta der Grundrechte enthalten, muss beides zusammen gelesen werden, um den eigentlichen Inhalt zu erfassen. So heißt es beispielsweise in der Charta der Grundrechte, niemand dürfe zur Todesstrafe verurteilt oder hingerichtet werden, während die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte dies näher bestimmen, indem u. a. die Tötung in Notwehr und die Todesstrafe im Kriegszustand für zulässig erklärt werden.

Aus den Vertragstexten selbst ergeben sich weitere Referenzen auf anderes geltendes Recht: Zum Beispiel tritt die EU laut EUV Art 6 Abs 2 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei. Die 65 zum Vertrag gehörenden offiziellen Erklärungen sowie eine Auflistung all derjenigen Dokumente des Vertrags von Lissabon, die sich nicht unmittelbar aus den Vertragsartikeln ergeben, sind in der Schlussakte der Regierungskonferenz (ABl 2007/C 306/02) enthalten.


Unterz.
In Kraft
Vertrag
1948
1948
Brüsseler
Pakt
1951
1952
Paris
1954
1955
Pariser
Verträge
1957
1958
Rom
1965
1967
Fusions-
vertrag
1986
1987
Einheitliche
Europäische Akte
1992
1993
Maastricht
1997
1999
Amsterdam
2001
2003
Nizza
2007
2009
Lissabon
 
                   
Europäische Gemeinschaften Drei Säulen der Europäischen Union
Europäische Atomgemeinschaft (Euratom)
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) Vertrag 2002 ausgelaufen Europäische Union (EU)
    Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) Europäische Gemeinschaft (EG)
      Justiz und Inneres (JI)
  Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS)
Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP)
Westunion (WU) Westeuropäische Union (WEU)    
aufgelöst zum 1. Juli 2011
                     


Änderungen gegenüber dem Vertrag von Nizza

Die meisten Neuerungen, die der Vertrag von Lissabon im Vergleich zu den bestehenden politischen Grundlagen der EU (nach dem Vertrag von Nizza) bringen soll, entsprechen inhaltlich dem gescheiterten Verfassungsvertrag. Sie sind deshalb in dem Artikel Vertrag über eine Verfassung für Europa ausführlich dargestellt und sollen hier nur kurz genannt werden.

Diese Änderungen betreffen unter anderem:

  • eine Ausweitung der gesetzgeberischen Zuständigkeiten des Europäischen Parlaments, das nun in den meisten Politikbereichen dem Ministerrat gleichgestellt sein soll;
  • das neue Amt des Präsidenten des Europäischen Rates, der künftig für je zweieinhalb Jahre vom Europäischen Rat ernannt werden soll, um eine größere Kontinuität in dessen Aktivitäten zu sichern;
  • die Ausweitung der Mehrheitsentscheidungen im Rat der Europäischen Union und die Einführung der doppelten Mehrheit als Abstimmungsverfahren (allerdings erst ab 2014), um die Möglichkeit eines einzelstaatlichen Vetos zu reduzieren;
  • die Einführung eines „EU-Außenministers“ (allerdings unter der Bezeichnung Hoher Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik), der vom Europäischen Rat ernannt wird und zugleich Vorsitzender des Außenministerrats und Vizepräsident der Kommission ist;
  • die Verkleinerung der Kommission;
  • die Formulierung eines Kompetenzkatalogs, der die Zuständigkeiten der EU deutlicher als bisher definiert;
  • die Institutionalisierung der „Verstärkten Zusammenarbeit“, durch die eine Gruppe von Mitgliedstaaten untereinander weitergehende Integrationsschritte verwirklichen kann, auch wenn andere sich nicht daran beteiligen;
  • die Einführung eines europaweiten Bürgerbegehrens;
  • die Regelung des freiwilligen Austritts von Mitgliedstaaten aus der EU;
  • eine Verschärfung der Beitrittskriterien;
  • die Ausstattung der EU mit eigener Rechtspersönlichkeit;
  • den Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention.

Änderungen gegenüber dem Verfassungsvertrag

Lediglich in wenigen Punkten weicht der Vertrag von Lissabon auch inhaltlich vom Entwurf des Verfassungsvertrags ab.

Beibehaltung der bisherigen Vertragsstruktur

Auffälligste Veränderung ist die Streichung des Begriffs „Verfassung“. Die traditionelle Struktur eines Grundvertrags (bei dem es sich um eine Modifizierung des bisherigen EG-Vertrags handelt, der nun Vertrag über die Arbeitsweise der EU, kurz AEUV, heißen wird) und eines gleichrangigen Vertrags, des EU-Vertrags, der den supranationalen AEU-Vertrag mit den intergouvernementalen Politiken verklammert, bleibt unangetastet.

Inhaltlich übernimmt der Vertrag von Lissabon jedoch die Kompetenzenverteilung, wie sie in der Verfassung vorgesehen war. So war die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen bisher nur im EU- nicht im EG-Vertrag genannt; sie bildete im traditionellen Drei-Säulen-Modell der EU die 3. (intergouvernementale) Säule. Durch den Vertrag von Lissabon wird sie dagegen im Wesentlichen in den supranationalen Bereich übernommen, der im AEUV geregelt ist. Allein die heutige 2. Säule (Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik) wird weiterhin rein intergouvernemental sein und also als eigene „Säule“ fortbestehen.

Staatstypische Symbole

Der neue Grundlagenvertrag verzichtet im Gegensatz zum Verfassungsvertrag auf staatstypische Symbole wie Flagge, Hymne und Europatag. Diese symbolische Veränderung sollte die (etwa im Vereinigten Königreich verbreiteten) Befürchtungen ausräumen, die EU solle durch die Verfassung zu einem neuen „Superstaat“ werden. In der Praxis wird sich am Gebrauch der Symbole jedoch nichts verändern, da diese auch bisher verwendet wurden, ohne dass es dafür eine ausdrückliche vertragliche Grundlage gab.

In der Erklärung Nr. 52 zur Regierungskonferenz, die als offizielles Dokument dem Verfassungsvertrag angehängt ist, ohne unmittelbare Rechtswirkung zu haben, erklärte außerdem eine Mehrzahl der EU-Staaten (darunter auch Deutschland und Österreich), dass die Symbole „für sie auch künftig [...] die Zusammengehörigkeit der Menschen in der Europäischen Union und ihre Verbundenheit mit dieser zum Ausdruck bringen“.

Bezeichnungen

Ähnlich wie die staatstypischen Symbole wurden auch die staatstypischen Bezeichnungen wieder zurückgenommen, die im Verfassungsvertrag vorgesehen waren. Stattdessen werden meist die bereits im bisherigen EU-Vertrag existierenden Bezeichnungen übernommen.

Wie bereits erwähnt, entfällt der Begriff „Verfassung“ vollständig. Der Vertrag über die Europäische Union (EUV) behält seinen bisherigen Namen. Der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) dagegen soll in Zukunft Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) heißen. Außerdem wird, wie schon im Verfassungsvertrag vorgesehen, die Bezeichnung Gemeinschaft konsequent durch Union ersetzt.

Der von der Verfassung vorgesehene „Außenminister der Union“ wurde mit Art. 18 EUV in Hoher Repräsentant für Außen- und Sicherheitspolitik umbenannt. Sein Titel erinnert damit an das bereits nach dem Vertrag von Nizza existierende Amt des Hohen Vertreters für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik; seine Befugnisse entsprechen aber denen des von der Verfassung vorgesehenen Außenministers.

Schließlich behalten auch die von der EU erlassenen Rechtsakte weiterhin die bisher gültigen Bezeichnungen. Statt „Europäischer Gesetze“ erlässt die EU also weiterhin Verordnungen, statt „Europäischer Rahmengesetze“ weiterhin Richtlinien.

Grundrechtecharta

Anders als in der Verfassung wird der Text der Grundrechtecharta nicht im Vertrag enthalten sein. Durch einen Verweis in Art. 6 Abs. 1 EUV wird sie aber für rechtsverbindlich erklärt.

Allerdings haben sich Großbritannien und Polen eine Ausnahme ausgehandelt, sodass die Grundrechtecharta vor britischen und polnischen Gerichten keinen Rechtsschutz gewähren wird. Irland, das sich die Prüfung einer solchen Ausnahme zunächst ebenfalls vorbehalten hatte, hat sich bis jetzt noch nicht dazu entschieden. Das Europäische Parlament hält diese Ausnahmeregelungen für Großbritannien und Polen „für einen dramatischen Rückschlag und eine schwere Beschädigung des innersten Selbstverständnisses der Europäischen Union, wenn nun ein oder mehrere Mitgliedstaaten ein 'opt out' von der Charta der Grundrechte für sich in Anspruch nehmen“.[6]

Nichtsdestoweniger erklärte im Oktober 2007 auch die tschechische Regierungspartei ODS ihre Absicht, die Vereinbarkeit der Grundrechtecharta mit tschechischem Verfassungsrecht überprüfen zu lassen.[7]

Verschiebung der Neuerungen im Abstimmungsverfahren

Während die Liste der Themen, über die vom Rat der EU mit qualifizierter Mehrheit entschieden werden kann, wie im Verfassungsvertrag vorgesehen, erweitert wird, wird die Einführung des dort enthaltenen Abstimmungsverfahrens der doppelten Mehrheit auf 2014 verschoben. Bis dahin gilt für die Mehrheitsentscheidungen das im Vertrag von Nizza festgelegte Stimmenverhältnis, bei dem die vier großen Staaten mit über 50 Millionen Einwohnern (Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien) über gleich viele Stimmen (je 29) verfügen, und die nächstgrößeren (Spanien mit 45 Mio. Einwohner und Polen mit 38 Mio.) mit 27 Stimmen beinahe gleiches Stimmengewicht besitzen [8].

Vom 1. November 2014 bis Ende März 2017 gelten dann die Abstimmungsregeln der doppelten Mehrheit, wie sie bereits im Verfassungsvertrag vorgesehen waren (55 % aller Mitgliedstaaten, jedoch mindestens 15 Mitgliedstaaten, die gleichzeitig mindestens 65 % der Bevölkerung repräsentieren [9]). Während dieses Zeitraums kann jedoch jedes Ratsmitglied „beantragen“, dass weiterhin die Abstimmungsregeln des Vertrags von Nizza Anwendung finden.

Ab 2017 soll das neue Abstimmungsverfahren uneingeschränkt gelten.

Anwendung des Ioannina-Kompromisses
Als erweiterter Minderheitenschutz wurde die Weitergeltung des sogenannten Kompromiss von Ioannina vereinbart. Demnach werden die Verhandlungen im Rat für eine „angemessene Frist“ fortgesetzt, wenn dies mindestens 21 % der Mitgliedstaaten oder mindestens 26,25 % der repräsentierten Bevölkerung (d. h. 75 % der Mitgliedstaaten oder Bevölkerung für eine Sperrminorität) verlangen. Ab 1. April 2017 kommt der Kompromiss von Ioannina vereinfachend auch schon zur Anwendung, wenn mindestens 24,75 % der Mitgliedstaaten oder mindestens 19,25 % der repräsentierten Bevölkerung (d. h. 55 % der Mitgliedstaaten oder Bevölkerung für die Bildung einer Sperrminorität) die Fortsetzung der Verhandlungen im Rat verlangen.

Klimawandel und Energiesolidarität

Weitgehend unbeachtet von Medien und Öffentlichkeit wurden gegenüber dem Verfassungsvertrag auch Ergänzungen vorgenommen. So wird die Bekämpfung des Klimawandels erstmals als ausdrückliches Ziel im Primärrecht erwähnt. Zudem werden an mehreren Stellen Vertragsklauseln zur Energiesolidarität eingefügt.

Entstehung und Ratifizierung des Vertrags von Lissabon

Ausarbeitung des Vertrages

Die Grundzüge des Vertrags von Lissabon wurden vom Europäischen Rat während der deutschen Ratspräsidentschaft auf einer Tagung am 21. und 22. Juni 2007 in Brüssel beschlossen. Der Europäische Rat legte sie im Mandat an die Regierungskonferenz nieder, die daraufhin den definitiven Vertragstext ausarbeitete.[10]

Die Unterzeichner des Vertrags

Im Rahmen der Regierungskonferenz, die am 23. Juli 2007 ihre Arbeit aufnahm, wurde ein Entwurf ausgearbeitet, der 145 Seiten Vertragstext sowie 132 Seiten mit 12 Protokollen und 51 Erklärungen umfasste.[11]

Beim EU-Gipfel in Lissabon am 18. und 19. Oktober 2007 einigten sich die Staats- und Regierungschefs schließlich auf den endgültigen Vertragstext, wobei noch einmal Änderungswünsche der Vertreter von Italien und Polen berücksichtigt wurden.[12] Der Vertrag ist am 13. Dezember 2007 in Lissabon unterzeichnet worden.

Ratifizierung

Der Vertrag von Lissabon tritt nach Artikel 6 des Vertrages am 1. Januar 2009 in Kraft, sofern bis zu diesem Zeitpunkt alle Ratifikationsurkunden bei der Regierung der Italienischen Republik hinterlegt worden sind, oder andernfalls am ersten Tag des auf die Hinterlegung der letzten Ratifikationsurkunde folgenden Monats.

Die Struktur des Vertrags von Lissabon, die bestehenden Verträge zu belassen und in diese die weitgehend unveränderte Substanz des EU-Verfassungsvertrags einzubauen, sollte der Forderung nach nationalen Referenden die Grundlage entziehen. Schon kurz nach dem EU-Gipfel wurde jedoch in etlichen Mitgliedstaaten die Abhaltung eines Referendums – teilweise sogar von Regierungsparteien – gefordert. Es war deshalb schon zu diesem Zeitpunkt fraglich, ob der Vertrag von Lissabon entsprechend dem vorgesehenen Zeitplan (s.u.) vor den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2009 würde ratifiziert werden und in Kraft treten können.[13] Schließlich wurde jedoch nur in Irland ein Referendum angesetzt, das am 12. Juni 2008 stattfand und zu einer Ablehnung des Reformvertrags führte. In den meisten anderen EU-Staaten stimmten die Parlamente bis Herbst 2008 ab. In Schweden steht die parlamentarische Abstimmung im November 2008 an, in Polen fehlt bislang noch die Unterschrift des Staatspräsidenten unter das Ratifikationsgesetz. In Deutschland und der Tschechischen Republik schließlich stehen noch Urteile der Verfassungsgerichte über die Verfassungsmäßigkeit des Vertrages aus, wobei in Deutschland das Parlament bereits zugestimmt hat, sodass bei einer positiven Entscheidung des Gerichts die Ratifikation in Kraft treten wird. In Tschechien ist dagegen die Entscheidung des Parlaments noch offen.

Als erstes Land ratifizierte Ungarn am 17. Dezember 2007 den Vertrag von Lissabon mit 325 Ja-Stimmen bei 5 Gegenstimmen und 14 Enthaltungen. Am 29. Januar 2008 folgten die Parlamente von Malta einstimmig und von Slowenien mit 74 Ja-Stimmen bei 6 Gegenstimmen und 10 Enthaltungen.[14][15] Rumänien ratifizierte als vierter Mitgliedstaat am 4. Februar 2008 mit 387 Ja-Stimmen bei einer Gegenstimme und einer Enthaltung. Zugleich war dies seit dem Beitritt Anfang 2007 der erste europäische Vertrag, den Rumänien als Mitgliedstaat unterzeichnete.

Frankreich ratifizierte den Vertrag am 14. Februar 2008. Am 30. Januar 2008 hatten zunächst 210 Senatsmitglieder bei 48 Gegenstimmen und 62 Enthaltungen für die Änderung der französischen Verfassung gestimmt, welche die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon im Parlament ohne die Durchführung eines Referendums ermöglichte.[16] Am 6. Februar 2008 lehnte die Nationalversammlung dann mit 227 gegen 175 Stimmen einen Antrag der Sozialistischen Partei ab, erneut in einer Volksabstimmung über den Vertrag abstimmen zu lassen.[17] Am 7. Februar nahm die Nationalversammlung den Vertrag mit 336 Ja-Stimmen bei 52 Gegenstimmen und 22 Enthaltungen an;[18] in der Nacht zum 8. Februar 2008 ratifizierte auch der Senat den Vertrag mit 265 Ja-Stimmen bei 42 Gegenstimmen und 13 Enthaltungen. Am 14. Februar 2008 wurde die Ratifizierung durch die Unterschrift von Staatspräsident Nicolas Sarkozy und die anschließende Veröffentlichung im Staatsanzeiger rechtsgültig.

Als sechster EU-Mitgliedstaat ratifizierte Bulgarien am 21. März 2008 den Vertrag von Lissabon mit 195 Ja-Stimmen bei 15 Gegenstimmen, insbesondere aus der oppositionellen nationalistischen Partei Ataka, und 30 Enthaltungen.[19]

In Polen stimmte der Sejm nach einem Kompromiss zwischen der Regierung von Donald Tusk und Präsident Lech Kaczyński am 1. April 2008 mit 384 Ja-Stimmen bei 56 Gegenstimmen und 12 Enthaltungen für den Vertrag.[20] Am 2. April 2008 verabschiedete der Senat den Vertrag mit 74 Ja-Stimmen bei 17 Gegenstimmen und sechs Enthaltungen.[21] Dem Kompromiss zufolge soll die Regierung in der Zukunft keinen Änderungen am Lissaboner Vertrag zustimmen dürfen, welche die Formel von Ioannina oder die Opt-Out-Klausel für die Grundrechtecharta betreffen, ohne von Parlament und Präsident dazu ermächtigt worden zu sein.[22] Präsident Lech Kaczyński unterzeichnete am 10. April zunächst zwar das Begleitgesetz zu dem Vertrag, jedoch noch nicht die Ratifizierung selbst.[23] Nach der gescheiterten Volksabstimmung in Irland erklärte er daraufhin den Vertrag von Lissabon für gegenstandslos und kündigte an, die Ratifizierungsurkunde nicht unterzeichnen zu wollen.[24] Später lenkte er allerdings ein und deutete an, zu einer Ratifizierung des Vertrages bereit zu sein, sofern auch alle übrigen EU-Staaten diesen ratifizierten.

Die Slowakei ratifizierte den Vertrag von Lissabon als achter Staat ebenfalls am 10. April 2008 nach anhaltenden Debatten um ein nationales Mediengesetz, welches aufgrund des Widerstands der Opposition einer Ratifizierung lange entgegen stand. 103 der 109 Anwesenden von 150 Parlamentariern stimmten für den Vertrag, fünf stimmten gegen den Vertrag.[25] Portugal ratifizierte den Vertrag am 23. April 2008 parlamentarisch mit 208 Ja-Stimmen bei 21 Gegenstimmen, die aus drei linksgerichteten Parteien Partido Ecologista Os Verdes, Bloco de Esquerda und Partido Comunista Português stammten.[26] Am 24. April 2008 stimmte Dänemark dem Vertrag mit 90 Ja-Stimmen bei 25 Gegenstimmen und keinen Enthaltungen zu.[27]

In Österreich stimmte der Nationalrat am 9. April 2008 mit 151 Ja-Stimmen bei 27 Gegenstimmen für den Vertrag.[28] Wie in kaum einem anderen EU-Staat wurde in Österreich die Ratifikation von heftigen Protesten und Forderungen nach einem Referendum begleitet. Hintergrund der Ablehnung war unter anderem die Neutralität Österreichs, die einige Kritiker durch den Vertrag von Lissabon gefährdet sahen. Ein anderer Kritikpunkt – vor allem der Linken – war, dass laut Vertrag die Euratom weiterhin integraler Bestandteil der EU bleibt, die EU also keinen Ausstieg aus der Kernenergie vorsehe.

Im Vereinigten Königreich wurde am 5. März 2008 nach anhaltenden Debatten ein von der konservativen Opposition beantragtes Referendum über den EU-Reformvertrag von den Abgeordneten des House of Commons mit 311 zu 248 Stimmen abgelehnt.[29] Am 11. März 2008 verabschiedete das House of Commons daraufhin den Vertrag mit 346 zu 206 Stimmen.[30] Eine Klage auf Durchführung eines Referendums wurde vom Obersten Gerichtshof abgelehnt.[31]

In Belgien verabschiedete der Senat am 6. März 2008 den Vertrag mit 48 Ja-Stimmen bei 8 Gegenstimmen und einer Enthaltung. Am 10. April 2008 stimmte die Abgeordnetenföderationskammer mit 116 zu 18 Stimmen bei sieben Enthaltungen für den Vertrag.[32]

In Deutschland beschloss am 15. Februar 2008 der Bundesrat gemäß Art. 76 GG eine Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007[33], welche sein Ausschuss für Fragen der Europäischen Union[34] empfohlen hatte.[35][36] Am 24. April 2008 stimmte der Bundestag mit 515 Ja-Stimmen bei 58 Gegenstimmen und einer Enthaltung für den Vertrag. Am 23. Mai 2008 ratifizierte auch der Bundesrat den EU-Vertrag mit 66 Ja-Stimmen und drei Enthaltungen; 15 Länder stimmten zu, Berlin enthielt sich auf Bestreben der dort mitregierenden Partei Die Linke. [37] Noch am gleichen Tag reichte der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler (CSU), der bereits 2005 gegen den Europäischen Verfassungsvertrag geklagt hatte, beim Bundesverfassungsgericht eine Individual- und eine Organklage gegen die deutsche Ratifizierung des Vertrages ein. Auch die Linksfraktion, die Ökologisch-Demokratische Partei (ödp) und einzelne Abgeordnete reichten Verfassungsbeschwerden ein. Das Bundespräsidialamt teilte am 30. Juni mit, dass Horst Köhler auf die formale Bitte des Bundesverfassungsgerichts hin das Gesetz vor einer Urteilsverkündung nicht unterschreiben werde.[38]

In Tschechien ist der Ratifizierungsprozess unterbrochen, nachdem der Senat den Vertrag an das Verfassungsgericht zur Überprüfung überwies.[39]

Das „Nein“ der Iren

Wahlplakat zum Referendum in Irland, Juni 2008

In Irland wurde als einzigem Mitgliedsstaat am 12. Juni 2008 eine Volksabstimmung über die Ratifizierung des Vertrags von Lissabon abgehalten. Dabei sprachen sich alle großen Parteien für eine Zustimmung zum Vertrag aus, führten jedoch – anders als die Vertragsgegner, vor allem die von dem britischen Waffenhändler Declan Ganley gegründete Plattform Libertas – keine allzu intensive Kampagne. 53,4 Prozent der Wähler lehnten schließlich den Reformvertrag ab. Die Wahlbeteiligung betrug nach Angaben der BBC 53,1 %.[40] Der irische Justizminister Dermot Ahern nannte das Ergebnis eine Niederlage der irischen Regierung und der Politik insgesamt, da alle großen Parteien Irlands für die Annahme des Vertrags plädiert hatten. Kritiker werfen der Regierung vor, sie habe sich im Gegensatz zu den Reformgegnern zu spät und zu unentschlossen für ein Ja engagiert. Die Überzeugungsarbeit der Reformgegner wird indes zum Teil als unsachlich kritisiert, da in diesem Zusammenhang Inhalte thematisiert worden seien, die wenig oder nichts mit dem Vertrag zu tun hätten.

Nach dem „Nein“ der Iren herrscht in der europäischen Politik eine rege Diskussion über die weitere Vorgehensweise bei der Umsetzung des Vertrags von Lissabon. Der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier nannte als mögliche Option „den vorübergehenden Ausstieg“ Irlands aus dem europäischen Integrationsprozess, zog diesen Vorschlag jedoch später wieder zurück.[41] Als eine wahrscheinliche Möglichkeit wurde eine zweite Volksabstimmung in Irland zu einem späteren Zeitpunkt gesehen. Bereits der Vertrag von Nizza war im Jahre 2001 zunächst in einem irischen Referendum abgelehnt, bei einer zweiten Abstimmung im Jahre 2002 jedoch angenommen worden. Allerdings hatte sich das Referendum 2001 (anders als 2008) durch eine sehr niedrige Wahlbeteiligung ausgezeichnet, sodass eine Wiederholung auch aus diesem Grund legitim erschien.

Unabhängig von den Ereignissen in Irland verständigten sich die EU-Staaten darauf, den Ratifizierungsprozess fortzusetzen. So erfolgten auch nach dem Referendum weitere Ratifikationen, unter anderem in Großbritannien, Zypern und den Niederlanden.

Im September 2008 stieß das Europäische Parlament eine Untersuchung der Finanzierung der Nein-Kampagne an, nachdem Hinweise auf Unregelmäßigkeiten daran erschienen waren. So soll die Tätigkeit von Libertas durch einen Kredit von Declan Ganley finanziert worden sein, der in seiner Höhe dem irischen Recht widerspräche.[42] Außerdem wurden die Aktivitäten Ganleys mit dem amerikanischen Verteidigungsministerium sowie der CIA in Verbindung gebracht.[43] Ganley wies diese Vorwürfe zurück, die nun von den irischen Behörden überprüft werden.

Stand der Ratifizierung

Vorbemerkung: Mit der Zustimmung des Parlaments gilt ein Vertrag landläufig als ratifiziert. Die folgende Tabelle schließt dagegen juristisch exakt den Ratifizierungsprozess erst mit der Unterschrift des Staatsoberhauptes ab. Daher weichen die untenstehenden Angaben für offen (gelb), ratifiziert (grün) und abgelehnt (rot) teilweise von denen anderer Publikationen ab.

Die Einflussmöglichkeiten der Staatsoberhäupter auf den Ratifizierungsprozess sind von Land zu Land verschieden. So besitzt der polnische Präsident ein „echtes“ Vetorecht, er kann also die Ratifizierung des Vertrages durch Verweigerung der Unterschrift verhindern. Die finnische Staatspräsidentin besitzt lediglich ein suspensives Veto. Sie kann die Unterzeichnung des Ratifizierungsgesetzes verweigern; in diesem Fall müsste das finnische Parlament erneut darüber abstimmen. Kommt in der zweiten Abstimmung jedoch wiederum eine Mehrheit für die Ratifizierung zustande, so gilt diese auch ohne Zustimmung der Präsidentin. Der deutsche Bundespräsident wiederum besitzt (ähnlich wie die meisten EU-Staatsoberhäupter) keinerlei Vetorecht im Ratifizierungsprozess. Sofern die Ratifizierung gundgesetzkonform ist – was vom deutschen Bundesverfassungsgericht derzeit geprüft wird –, muss er die Ratifizierungsurkunde unterzeichnen und könnte dazu gegebenenfalls durch eine Organklage gezwungen werden.

Land Ratifizierungsdatum Abstimmungsvariante Ergebnis
Europäische Union   Europäische Union 20. Februar 2008 [44] Europäisches Parlament
(Zustimmung, keine Ratifizierung)[45]
ja
Ungarn   Ungarn 17. Dezember 2007
20. Dezember 2007
Parlament
Präsident
ja
Slowenien   Slowenien 29. Januar 2008
29. Januar 2008
Nationalversammlung
Nationalrat
ja
Malta   Malta 29. Januar 2008 Repräsentantenhaus ja
Rumänien   Rumänien 4. Februar 2008 [46]

6. Februar 2008
Parlament (Abgeordnetenkammer
und Senat)
Präsident
ja
Frankreich   Frankreich 30. Januar 2008
7. Februar 2008
7. Februar 2008
14. Februar 2008
Verfassungsänderung
Nationalversammlung
Senat
Präsident
ja
Bulgarien   Bulgarien 21. März 2008 Nationalversammlung ja
Slowakei   Slowakei 10. April 2008
12. Mai 2008
Nationalrat
Präsident
ja
Portugal   Portugal 23. April 2008
8. Mai 2008
Versammlung der Republik
Präsident
ja
Dänemark   Dänemark 24. April 2008
30. April 2008
Volksversammlung
Staatsoberhaupt
ja
Österreich   Österreich 9. April 2008
24. April 2008
28. April 2008
Nationalrat
Bundesrat
Bundespräsident
ja
Lettland   Lettland 8. Mai 2008
28.Mai 2008
Versammlung der Republik
Präsident
ja
Litauen   Litauen 8. Mai 2008
14. Mai 2008
Versammlung der Republik
Präsident
ja
Luxemburg   Luxemburg 29. Mai 2008
3. Juli 2008
Abgeordnetenkammer
Großherzog von Luxemburg
ja
Estland   Estland 11. Juni 2008
19. Juni 2008
Reichstag
Präsident
ja
Griechenland   Griechenland 11. Juni 2008 Abgeordnetenkammer ja
Finnland   Finnland
           inkl. Åland
11. Juni 2008
12. September 2008 [47]
Herbst 2008 (kein Einfluss auf Ratifizierung)
Finnisches Parlament
Präsident der Republik Finnland
Åländisches Parlament
ja

offen
Vereinigtes Königreich   Vereinigtes Königreich
           inkl. Gibraltar
11. März 2008
18. Juni 2008
19. Juni 2008
offen (kein Einfluss auf Ratifizierung)
House of Commons
House of Lords
Staatsoberhaupt (Royal Assent)
Parlament von Gibraltar
ja


offen
Zypern   Zypern 3. Juli 2008 Repräsentantenhaus ja
Niederlande   Niederlande 5. Juni 2008
8. Juli 2008
10. Juli 2008
Zweite Kammer der Generalstaaten
Erste Kammer der Generalstaaten
Staatsoberhaupt
ja
Belgien   Belgien 6. März 2008
10. April 2008
14. Mai 2008
19. Mai 2008

20. Mai 2008

27. Juni 2008
10. Juli 2008
Senat
Abgeordnetenkammer
Parlament der Wallonischen Region
Parlament der Deutschsprachigen
Gemeinschaft

Parlament der Französischen
Gemeinschaft

Parlament der Region Brüssel-Hauptstadt
Flämisches Parlament
ja
Spanien   Spanien 26. Juni 2008
15. Juli 2008
Abgeordnetenkongress
Senat
ja
Italien   Italien 23. Juli 2008
31. Juli 2008
2. August 2008
Senat
Abgeordnetenkammer
Präsident
ja
Polen   Polen 1. April 2008
2. April 2008
offen [48]
Sejm
Senat
Staatspräsident
ja
ja
offen
Deutschland   Deutschland 24. April 2008
23. Mai 2008
offen (nach BVerfG-Entscheidung) [49]
Bundestag
Bundesrat
Bundespräsident
ja
ja
offen
Schweden   Schweden 20. November 2008 [50] Reichstag offen
Tschechien   Tschechien offen (derzeit in der Prüfung
beim Verfassungsgericht)
Abgeordnetenhaus
Senat
offen
offen
Irland   Irland 29. April 2008
9. Mai 2008
12. Juni 2008
Dáil Éireann (Unterhaus)
Seanad Éireann (Senat)
Referendum
Präsident
ja
ja
nein


Debatte und Kritik

Demonstration am Ballhausplatz in Wien Ende April 2008

Eine breite gesellschaftliche Debatte, die schon bei dem geplanten Verfassungsvertrag meist nur schwach ausgeprägt war, gab es im Fall des Lissabon-Vertrags in kaum einem europäischen Land. Dazu mag eine gewisse Ermüdung wie auch die mangelnde Öffentlichkeit aufgrund der parlamentarischen Ratifizierung mit meist großen, parteienübergreifenden Mehrheiten beigetragen haben. Dennoch gab es in vielen Ländern wenigstens einzelne kritische Stimmen, die durch öffentliche Aktionen auf sich aufmerksam machten. So fanden in Österreich Großdemonstrationen für eine Volksabstimmung zum EU-Reformvertrag statt, die von der Bürgerinitiative „Rettet Österreich“, den Plattformen „Nein zum EU-Vertrag“ und „Volxabstimmung.at“ sowie der Oppositionspartei FPÖ im März und April 2008 organisiert wurden.[51] Die verschiedenen Organisationen sammelten mehrere hunderttausend Unterschriften und übergaben sie an die österreichische Parlamentspräsidentin Barbara Prammer.

In Deutschland reichte der Bundestagsabgeordnete Peter Gauweiler am 23. Mai 2008 vor dem Bundesverfassungsgericht eine Klage gegen den Vertrag von Lissabon ein, um dessen Ratifizierung durch die Bundesrepublik zu verhindern. Der Staatsrechtler Karl Albrecht Schachtschneider wird Gauweiler dort vertreten.[52]

Eine intensive Debatte über den Vertrag fand anlässlich des Referendums am 12. Juni 2008 in Irland statt. Hier starteten die Kritiker des Vertrages eine Online-Petition, um in ihrem Sinne auf die irische Bevölkerung einzuwirken[53]. Umgekehrt führten auch die Befürworter des Vertrages, etwa die „Jungen Europäischen Föderalisten“, öffentliche Aktionen durch, um Zustimmung für ein Ja im Referendum zu gewinnen.[54]

Wiederaufnahme der Kritik am Verfassungsvertrag

Da der Vertrag von Lissabon die Substanz des EU-Verfassungsvertrags nahezu unverändert[55] übernahm, wird von den Kritikern die bereits zum Verfassungsvertrag geäußerte Kritik auch gegenüber dem Vertrag von Lissabon aufrecht erhalten.[56] Auch Giscard d’Estaing, der Präsident des Verfassungskonvents, kritisierte, dass der Vertrag von Lissabon bloß „kosmetische“ Änderungen vornehme und die Inhalte des EU-Verfassungsvertrag lediglich anders darstelle, um diese „leichter verdaulich“ zu machen und Referenden zu vermeiden.[57] Hinzu kommt, dass der Vertrag in seiner neuen Form komplizierter aufgebaut und schwerer verständlich ist als der Verfassungsentwurf, was von Kritikern als gezielte Täuschung der Bürger verstanden wurde.[58]

Von föderalistischer Seite wurde die Kritik erneuert, dass der Vertrag von Lissabon (wie schon der Verfassungsvertrag) keineswegs eine „echte“ Verfassung im von ihnen angestrebten bundesstaatlichen Sinn ersetze.[59]

Von globalisierungskritischer Seite wurde u. a. betont, dass der Vertrag von Lissabon keine Antwort auf die sozialen und demokratischen Bedenken gebe, die in den Referenden in Frankreich und den Niederlanden zu einer Ablehnung geführt hätten. Zwar wurde unter den Zielen der EU der Passus „Binnenmarkt mit freiem und unverfälschten Wettbewerb“ gestrichen; zugleich wurde jedoch ein Protokoll über die Sicherstellung eines freien und unverfälschten Wettbewerbs vereinbart, sodass diese Änderung lediglich symbolischen Wert hatte.

Verspätete Veröffentlichung

Zu den Kritikpunkten am Vertrag zählte außerdem die Tatsache, dass der Rat der EU den Bürgern erst am 16. April 2008, also mehrere Monate nach der Unterzeichnung des Vertrags, eine Gesamtdarstellung des Vertrages in allen Mitgliedsprachen zur Verfügung stellte.[60] Die Übersetzung des Vertragstextes sowie Nachverhandlungen zu Details einzelner Formulierungen hatten dazu geführt, dass zunächst keine konsolidierte Fassung des Vertrages veröffentlicht wurde, obwohl bereits in mehreren Ländern die Ratifizierungsverfahren begonnen hatten. Die offizielle Publikation der neuen konsolidierten Fassung im Amtsblatt der EU erfolgte am 9. Mai 2008.

Keine vollständige Lösung des institutionellen Demokratiedefizits

Durch den Vertrag von Lissabon werden die Angelegenheiten mit Mitentscheidungsverfahren des Europäischen Parlaments ausgeweitet, sodass nun in nahezu allen Politikbereichen das Parlament gleichrangige Gesetzgebungsbefugnisse besitzt wie der Rat der EU. Damit wird einer wesentlichen Forderung zur Überwindung der fehlenden Gewaltenteilung im Rat und damit zur Verbesserung der demokratischen Legitimation der EU-Gesetzgebung entgegengekommen. Außerdem sollen dem Vertrag zufolge die Sitzungen des Rates immer nur dann öffentlich stattfinden, wenn dieser legislativ tätig wird, womit dem Vorwurf der Intransparenz entgegengetreten wird.

Dennoch bleiben in den Augen der Kritiker wichtige Aspekte des institutionellen Demokratiedefizits der EU ungelöst. Kritisiert werden unter anderem

  • die nur indirekte demokratische Legitimation der EU-Kommission,
  • das fehlende Initiativrecht des Parlaments,
  • die weiterhin fehlenden Zuständigkeiten des Parlaments in der Außen- und Sicherheitspolitik,
  • die (trotz des neu eingeführten Kompetenzkatalogs) unklare Kompetenzverteilung zwischen nationalen und europäischen Institutionen.

Kritiker befürchten zudem, dass mit dem Vertrag von Lissabon der Prozess, die demokratische Legitimität der EU zu erhöhen, als abgeschlossen betrachtet werde, obwohl der Auftrag des EU-Gipfels von Laeken,[61] die Strukturen der EU zu demokratisieren, weiterhin unerfüllt bleibe. Grundlage dieser Kritik ist die Präambel des Reformvertrages, derzufolge es Ziel des Vertrags ist, den „Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht [...] werden sollen, abzuschließen“.

Kritisiert wurde auch eine angebliche Beschönigung der demokratischen Verhältnisse durch den Vertragstext. So heißt es in EUV Art 14 Abs 1, dass das Parlament den Präsidenten der Kommission „wählt“; aus EUV Art 17 Abs 7 geht jedoch hervor, dass diese Wahl auf Vorschlag des Europäischen Rats stattfindet: Das Parlament kann den vom Europäischen Rat genannten Kandidaten zwar ablehnen, jedoch keinen eigenen Vorschlag einbringen.

Militarismusvorwurf

Eine heftige Diskussion lösten schließlich die verteidigungspolitischen Bestimmungen aus, die aus dem Verfassungsvertrag übernommen wurden.[62] So erwähne der Vertrag bei der Formulierung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zwar „zivile und militärische Mittel“, betone aber allzu sehr die Letzteren.

Besonders umstritten ist ein Passus in Art. 42 Abs. 3 des Vertrags. Darin heißt es:

„Die Mitgliedstaaten verpflichten sich, ihre militärischen Fähigkeiten schrittweise zu verbessern. Die Agentur für die Bereiche Entwicklung der Verteidigungsfähigkeiten, Forschung, Beschaffung und Rüstung (im Folgenden „Europäische Verteidigungsagentur“) ermittelt den operativen Bedarf und fördert Maßnahmen zur Bedarfsdeckung, trägt zur Ermittlung von Maßnahmen zur Stärkung der industriellen und technologischen Basis des Verteidigungssektors bei und führt diese Maßnahmen gegebenenfalls durch, beteiligt sich an der Festlegung einer europäischen Politik im Bereich der Fähigkeiten und der Rüstung und unterstützt den Rat bei der Beurteilung der Verbesserung der militärischen Fähigkeiten.“

Kritisiert wird, dass der erste Satz unter anderem eine Aufrüstungsverpflichtung enthalte und dass der zweite recht umfangreiche Kompetenzen in die Hände einer demokratisch nicht legitimierten Institution lege.

Befürworter halten dem entgegen, dass der Artikel 42 EUV lediglich die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik präzisiere, das bereits im Vertrag von Maastricht als Unionsziel verankert und nach der heute gültigen Fassung von Nizza unter Artikel 17 geregelt sei. Zudem betonen sie, dass die EU-Institutionen grundsätzlich nur im Sinne der zu Beginn des Vertragswerks angeführten allgemeinen Ziele der Union tätig werden dürfen. Dazu heißt es in Art. 3 EUV:

(1) Ziel der Union ist es, den Frieden, ihre Werte und das Wohlergehen ihrer Völker zu fördern.
(2) Die Union bietet ihren Bürgerinnen und Bürgern einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen, in dem – in Verbindung mit geeigneten Maßnahmen in Bezug auf die Kontrollen an den Außengrenzen, das Asyl, die Einwanderung sowie die Verhütung und Bekämpfung der Kriminalität – der freie Personenverkehr gewährleistet ist.
(5) 1 In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen und trägt zum Schutz ihrer Bürgerinnen und Bürger bei. 2 Sie leistet einen Beitrag zu Frieden, Sicherheit, globaler nachhaltiger Entwicklung, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, […] zum Schutz der Menschenrechte, […] sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen.

Dementsprechend sei es Ziel der Union, Frieden zu sichern und im Verteidigungsfall geeignete gemeinsame Maßnahmen ergreifen zu können.

Nordamerikanische Kritik

In die Kritik kam der Vertrag von Lissabon auch durch Wissenschaftler der national-konservativ ausgerichteten us-amerikanischen Heritage Foundation, deren Mitarbeiterin Sally McNamara[63] in mehreren Publikationen[64] den europäischen Einigungsprozess kritisierte, da dieser aus globalstrategischer Perspektive die Interessen der USA und der Nato untergrabe. Dem Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit zufolge soll die Heritage Foundation auch der geistige Urheber für die angebliche Finanzierung der irischen Nein-Kampagne durch die amerikanische CIA gewesen sein.[65] Dieser Vorwurf wurde von McNamara allerdings zurückgewiesen.

Literatur

Weblinks

Commons: Vertragsunterzeichnung am 13. Dezember 2007 – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien

Ratifizierungsübersicht

Dossier

Dokumente

Einführung

Vergleiche

Artikel

Einzelnachweise

  1. Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes mit Anlage I – Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz, 21./22. Juni 2007
  2. Amtsblatt der Europäischen Union, 2008/C 115/01, 9. Mai 2008
  3. Konsolidierte Fassung des Vertrags über die Europäische Union Art 6 Abs 1 und Art 51
  4. 2007/C 303/01 - Charta der Grundrechte der Europäischen Union
  5. 2007/C 303/02 - Erläuterungen zur Charta der Grundrechte
  6. Europäisches Parlament: Bericht Leinen, Dokument A6-279/2007, 11. Juli 2007
  7. Basler Zeitung: Tschechische Regierungspartei will EU-Reform prüfen lassen, 20. Oktober 2007
  8. Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie: Mehrheitsrechner für EU-Ratsentscheidungen
  9. SCADPlus: Die Beschlussfassungsverfahren der EU: Das neue Abstimmungsverfahren der qualifizierten Mehrheit – Offizielle Erläuterung des Verfahrens durch die EU
  10. Europäischer Rat: Schlussfolgerungen des Vorsitzes mit Anlage I – Entwurf des Mandats für die Regierungskonferenz, 21./22. Juni 2007
  11. Rat der Europäischen Union: Entwurf eines Vertrags zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 3. Dezember 2007
  12. Tagesschau: Durchbruch in Lissabon, 19. Oktober 2007
  13. CAP Analyse: Ausweg oder Labyrinth? Analyse und Bewertung des Mandats für die Regierungskonferenz von Sarah Seeger / Janis A. Emmanouilidis, Ausgabe 5, Seite 19, Juli 2007
  14. Tagesanzeiger: Slowenien und Malta ratifizieren Reformvertrag, 30. Januar 2008
  15. Basler Zeitung: Slowenisches Parlament ratifiziert EU-Vertrag von Lissabon, 29. Januar 2008
  16. Kleine Zeitung: Frankreich macht Weg frei für Ratifizierung des EU-Vertrags, 30. Januar 2008
  17. Der Standard: Nationalversammlung in Paris lehnt Referendum über EU-Vertrag ab, 7. Februar 2008
  18. Tagesanzeiger: Paris ratifiziert EU-Reformvertrag, 7. Februar 2008
  19. WirtschaftsBlatt: Bulgariens Parlament ratifizierte Lissabon-Vertrag, 21. März 2008
  20. AP: Poland’s parliament votes ‘yes’ to EU’s new treaty, 1. April 2008
  21. EU-Business: Polish parliament ratifies EU treaty, 2. April 2008
  22. warsawvoice.pl Polish Leaders Reach Deal on EU Treaty, 2. April 2008
  23. eubusiness.com Poland, Slovakia, embrace EU’s Lisbon Treaty, 10. April 2008, 21:48 Uhr
  24. Tagesschau: Kaczynski will EU-Vertrag stoppen vom 1. Juli 2008.
  25. Der Standard: EU-Reformvertrag in der Slowakei verabschiedet, 10. April 2008
  26. Tirol: Portugal ratifiziert EU-Reformvertrag, 24. April 2008
  27. EU-Business: Portugal ratifiziert EU-Reformvertrag, 23. April 2008
  28. Österreich: Breite Mehrheit im Nationalrat für EU-Reformvertrag, 9. April 2008
  29. Süddeutsche: Unterhaus lehnt EU-Volksabstimmung ab: Gordon Brown setzt sich durch, 5. März 2008
  30. BBC: EU treaty bill clears the Commons, 11. März 2008
  31. FR: … London winkt durch, 26. Juni 2008
  32. 7 sur 7: La Chambre a ratifié le traité de Lisbonne, 10. April 2008
  33. Entwurf eines Gesetzes zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 der Bundesregierung, Drucksache 928/07, 20. Dezember 2007
  34. Ausschuss für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates
  35. Empfehlungen des Ausschusses für Fragen der Europäischen Union des Bundesrates, Drucksache 928/1/07, 4. Februar 2008
  36. Deutschland: Antrag der Länder Bayern, Saarland, Baden-Württemberg, Drucksache 928/2/07, 14. Februar 2008
  37. www.heute.de
  38. Der Spiegel: „Deutsches Ja zur EU-Reform gestoppt“, Spiegel online, 30.Juni 2008
  39. BBC: Czech threat looms for EU treaty, 20. Juni 2008
  40. http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/7453560.stm
  41. NDR: „EU sucht nach irischem Nein den Weg aus der Krise“, 14. Juni 2008
  42. Süddeutsche Zeitung, 25.09.2008: Irland: EU-Referendum im Zwielicht
  43. Times Online, 28.09.2008: CIA ‘backed’ Irish battle against Brussels treaty
  44. vgl. Der Standard: EU-Parlament stimmt für Vertrag von Lissabon, 20. Februar 2008
  45. Das Europäische Parlament kann lediglich einen politischen Beschluss fassen, die Ratifizierung bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten.
  46. Xinhuanet: „Romanian parliament ratifies Lisbon Treaty“, 2. Mai 2008
  47. government.fi: „Finland ratifies the treaty of Lisbon“, 11. September 2008
  48. „Der EU-skeptische Präsident hat das Gesetz zum Reformvertrag bereits unterschrieben, die Ratifizierungsurkunde aber noch nicht unterzeichnet.“ SZ: „SPD-Politiker: Köhler knickt vor Querulanten ein“, 1. Juli 2008
  49. „Bundespräsident Horst Köhler hat einen Schritt hin zur Ratifizierung des EU-Reformvertrags von Lissabon getan.“ SZ: „Köhler billigt EU-Vertrag“, 8. Oktober 2008
  50. Tagesspiegel: „Polen/Schweden“, 19. Juni 2008
  51. Bürgerinitiative „Rettet Österreich“, Initiative Neutralität retten: Nein zum EU-Vertrag!, Plattform „Volxabstimmung“, Freiheitliche Partei Österreichs, siehe auch Fotos und Redetexte zu Demonstrationen in Österreich in Wien Konkret
  52. Auf zum letzten Gefecht – diesmal in Karlsruhe
  53. Homepage der Kampagne „Irish Friends Vote NO For Me!“
  54. Bericht über die Kampagne „European Youth for an Irish YES“ der Jungen Europäischen Föderalisten.
  55. Nach einer Analyse von Open Europe unterscheiden sich der Verfassungsvertrag und der Vertrag von Lissabon in nur 10 von 250 Vorschlägen, d. h. 96 % der Inhalte des Verfassungsvertrags wurden in den Vertrag von Lissabon übernommen.
  56. z. B. „Den Reformvertrag als Mogelpackung entlarven!“ (EUattac, Attac Österreich), EU-Reformvertrag. Europa in schlechter Verfassung
  57. Europäisches Parlament: Reform treaty: cosmetic changes to avoid referendums, says Giscard d’Estaing, 17. Juli 2007
  58. So etwa Giuliano Amato (Presse, 17.7.2007), Karel De Gucht (Flandreinfo.be, 23.6.2007)
  59. Europa Union: Stellungnahme der föderalistischen Europa-Union Deutschland, 2. Dezember 2007
  60. Vgl. Kritik der Europa Union Deutschland, 23. Februar 2008
  61. Europäischer Rat: Erklärung von Laeken zur Zukunft der Union, Dokument SN 273/01, 15. Dezember 2001
  62. Tobias Pflüger: Stimmerklärung zum Bericht Leinen (A6 279/2007) gegen den EU-Reformvertrag und das Mandat der Regierungskonferenz, 11. Juli 2007
  63. Sally McNamara, Mitarbeiter-Homepage
  64. Sally McNamara, 20.02.2008: The EU Reform Treaty: A Threat to the Transatlantic Alliance, Sally McNamara, 07.03.2008: The EU Lisbon Treaty: Gordon Brown Surrenders Britain's Sovereignty
  65. Times Online, 28.09.2008: CIA ‘backed’ Irish battle against Brussels treaty