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Bundestagswahlrecht

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Das Bundestagswahlrecht regelt die Wahl der 598 Mitglieder des Deutschen Bundestages. Nach den in Artikel 38 des Grundgesetzes festgelegten Wahlrechtsgrundsätzen ist die Wahl allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim. Weiterhin ist im Grundgesetz vorgeschrieben, dass die Wahlen zum Bundestag normalerweise alle vier Jahre stattfinden und dass man das passive Wahlrecht als Volljähriger, das aktive Wahlrecht ab der Vollendung des 18. Lebensjahr hat. Alle weiteren Bestimmungen zur Bundestagswahl werden von einem Gesetz, dem Bundeswahlgesetz, geregelt.

Verfassungsrechtliche Grundlagen

Wahlrechtsgrundsätze

Nach Artikel 38 Absatz 1 des Grundgesetzes werden „[d]ie Abgeordneten des Deutschen Bundestages [...] in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt.“ Diese fünf Wahlrechtsgrundsätze können wie folgt präzisiert werden. Die Wahlrechtsgrundsätze sind grundrechtsgleiche Rechte: Ihre Verletzung kann durch eine Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht gerügt werden.

Allgemeinheit der Wahl

Eine Wahl ist allgemein, wenn grundsätzlich jeder Staatsbürger an ihr teilnehmen kann: Es gibt keine Einschränkung etwa bezüglich des Einkommens, des Geschlechts, der Gesundheit oder anderer willkürlicher Unterschiede. Dagegen ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes die Vorschrift eines Mindestwahlalters mit der Allgemeinheit der Wahl vereinbar. Ebenso sind die im Abschnitt Wahlrecht erwähnten Voraussetzungen für das aktive Wahlrecht mit dem Grundgesetz vereinbar.

Auch der Ausschluss vom aktiven Wahlrecht ist - in engen Grenzen - mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Ausschluss vom passiven Wahlrecht unterliegt etwas weniger strengen Bestimmungen.

Das Wahlrecht ist aber prinzipiell Deutschen vorbehalten. Die Einführung eines Ausländerwahlrechtes bedürfte einer Änderung des Artikels 20 des Grundgesetzes, welche wiederum durch die Ewigkeitsklausel in Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes ausgeschlossen ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes ist allenfalls eine Erleichterung der Einbürgerung zulässig.

Unmittelbarkeit der Wahl

Eine Wahl ist unmittelbar, wenn der Wählerwille direkt das Wahlergebnis bestimmt. Eine Zwischenschaltung von Wahlmännern wie etwa bei der Wahl des US-Präsidenten ist damit unzulässig. Das Verfahren der Listenwahl hingegen ist mit dem Grundsatz der unmittelbaren Wahl vereinbar.

Freiheit der Wahl

Eine Wahl ist frei, wenn der Staat den Bürger nicht zu einer bestimmten inhaltlichen Wahlentscheidung verpflichtet. Die Freiheit der Wahl würde aber nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes durch eine Wahlpflicht, sofern sie durch das Bundeswahlgesetz eingeführt würde, nicht verletzt. Unvereinbar mit diesem Wahlrechtsgrundsatz wäre jedoch etwa die Durchführung von Wahlwerbung auf Kosten des Staates. Allerdings darf die (parteipolitisch gebildete) Bundesregierung unter strikter Wahrung ihrer Neutralität Öffentlichkeitsarbeit betreiben.

Gleichheit der Wahl

Eine Wahl ist gleich, wenn jeder Wähler grundsätzlich das gleiche Stimmgewicht besitzt. Die Gleichheit des Stimmgewichtes ist beispielsweise nicht gewahrt, wenn die Wahlkreise deutliche Unterschiede in ihrer Größe aufweisen oder von staatlicher Seite in der Weise bestimmt werden, dass gewisse Gruppen etwa durch Hochburgbildung Vor- oder Nachteile haben (Gerrymandering).

Die Gleichheit der Wahl ist derjenige Wahlrechtsgrundsatz, bezüglich der das Bundestagswahlrecht am problematischsten ist. Einerseits ist dies unvermeidbar, da die Wahlkreise nicht genau gleich groß gemacht werden können und auch die Wahlbeteiligung nicht homogen ist. Andererseits wird durch die Thematik der Überhangmandate und damit verbunden des negativen Stimmgewichts und der Fünfprozenthürde, besonders in Verbindung mit der Grundmandatsklausel, in verfassungsrechtlich und praktisch nicht zwingender Weise in die Gleichheit der Wahl eingegriffen. Während die Fünfprozenthürde und die Überhangmandate vom Bundesverfassungsgericht und von der Rechtswissenschaft grundsätzlich gebilligt werden, erscheinen die hieraus resultierenden Nebenwirkungen mit dem Grundgesetz nicht ohne Weiteres vereinbar.

Wahlgeheimnis

Eine Wahl ist geheim, wenn die Entscheidung eines Wählers keinem anderen bekannt ist. Das Bundestagswahlrecht sieht sogar vor, dass kein Wähler im Wahllokal seine Entscheidung bekannt machen darf. Problematisch ist die Briefwahl, die daher verfassungsrechtlich als Ausnahmefall gelten muss, da hier das Wahlgeheimnis nicht gesichert ist. Da aber ansonsten die als höherwertig betrachtete Allgemeinheit der Wahl beeinträchtigt würde, ist die Briefwahl mit den Wahlrechtsgrundsätzen vereinbar.

Wahlrecht

Aktives Wahlrecht

Das aktive Wahlrecht genießt nach dem Grundgesetz jeder Deutsche, der das 18. Lebensjahr vollendet hat. Dabei muss die Person nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen; es genügt, wenn diese Person Deutscher im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes ist.

Ein Staatsbürger, der seit mehr als 25 Jahren außerhalb des Gebiets des Europarates wohnt oder seit dem 23. Mai 1949 weniger als drei Monate auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik gelebt hat, ist nicht mehr aktiv wahlberechtigt. Hier wird argumentiert, dass sich dieser Staatsbürger nicht mehr in der Weise mit der deutschen Politik beschäftigt haben kann und deshalb von vorneherein keine qualifizierte Wahlentscheidung mehr zu treffen in der Lage ist.

Vom Wahlrecht ausgeschlossen ist,

  • wer durch Richterspruch vom Wahlrecht ausgeschlossen ist; dies kann geschehen, wenn eine Person wegen Wahlbehinderung, Wahlfälschung, Wählernötigung oder Wählerbestechung zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt wird,
  • wem „zur Besorgung aller seiner Angelegenheiten ein Betreuer nicht nur durch einstweilige Anordnung bestellt ist“ (§ 13 Nr. 2 BWG),
  • wer aufgrund von Schuldunfähigkeit in ein psychiatrisches Krankenhaus eingewiesen ist.

Passives Wahlrecht

Das passive Wahlrecht genießt jeder volljährige Deutsche im Sinne des Grundgesetzes. Hierbei ist zu beachten, dass die Volljährigkeit durch einfaches Bundesgesetz geändert werden könnte.

Das passive Wahlrecht setzt das aktive voraus. Wählbar ist außerdem nicht, wer in Folge Richterspruchs das passive Wahlrecht verloren hat (der Verlust des passiven Wahlrechts unterliegt etwas weniger strengen Beschränkungen als der Verlust des aktiven Wahlrechts) und auch nicht die deutsche Staatsangehörigkeit ausgeschlagen hat (und deswegen „nur“ Deutscher im Sinne des Artikels 116 des Grundgesetzes ist).

Wahlorgane

Das wichtigste Wahlorgan bei der Bundestagswahl ist der Bundeswahlleiter, der unter anderem die ordnungsgemäße Durchführung der Wahl überwacht, dem Bundeswahlausschuss vorsitzt und vom Bundesinnenministerium ernannt wird. In der Regel wird das Amt vom Leiter des Statistischen Bundesamtes wahrgenommen. Dem Bundeswahlleiter zur Seite stehen für jedes Bundesland der Landeswahlleiter und der Landeswahlausschuss, für jeden Wahlkreis der Kreiswahlleiter und der Kreiswahlausschuss und für jeden Wahlbezirk der Wahlvorsteher und der Wahlvorstand. Sie werden von der Landesregierung oder von einer von ihr bestimmten Stelle ernannt. Die übrigen Mitglieder der Wahlausschüsse werden vom Wahlleiter berufen.

Bestimmung der Kandidaten

Vorschlagsrecht von Parteien

Berechtigt zur Abgabe eines Wahlvorschlages sind Parteien nur, wenn sie im Bundestag oder einem Landtag mit mindestens fünf Abgeordneten vertreten sind oder dem Bundeswahlleiter ihre Beteiligung an der Bundestagswahl angezeigt haben.

Kreiswahlvorschläge

Die Bewerber einer Partei müssen in einer demokratischen und geheimen Wahl durch die Versammlung der Mitglieder der Partei im Wahlkreis oder einem von ihr bestimmten ähnlichen Gremium gewählt werden. Aktiv vorschlagsberechtigt ist hierbei jedes stimmberechtigte Parteimitglied; der Vorgeschlagene muss nicht Parteimitglied sein. Über die Wahl des Kreiswahlvorschlages muss ein Protokoll geführt werden; es muss dem Kreiswahlleiter vorgelegt werden. Dieser prüft den Wahlvorschlag, benennt eventuelle Mängel und gibt Gelegenheit zur Nachbesserung.

Zur Wahl zugelassen wird ein Kreiswahlvorschlag nur dann, wenn er von einer Partei stammt, die im Bundestag oder einem Landtag vertreten ist, wenn die Partei eine nationale Minderheit vertritt oder wenn er mindestens 200 Unterschriften von Wahlberechtigten aus dem Wahlkreis enthält, unabhängig davon, ob er von einer Partei eingereicht wird oder nicht. Daher können auch parteiunabhängige Kandidaten als Wahlkreisbewerber kandidieren, sofern sie dieses Unterschriftserfordernis erfüllen. Der Kreiswahlvorschlag soll eine Vertrauensperson und einen Stellvertreter benennen, die zur Abgabe von Erklärungen gegenüber dem Kreiswahlleiter berechtigt ist.

Ein Kreiswahlvorschlag kann durch gemeinsame Erklärung der beiden Vertrauenspersonen oder durch Erklärung der Mehrheit der Unterzeichner des Wahlvorschlages zurückgezogen werden. Durch Erklärung der beiden Vertrauenspersonen kann auch der Name der vorgeschlagenen Person geändert werden, sofern der ursprünglich Vorgeschlagene seine Wählbarkeit verliert oder stirbt. Ist der Wahlvorschlag bereits zugelassen, so kann er weder zurückgezogen noch geändert werden.

Landeslisten

Die Aufstellung der Landeslisten erfolgt - nach dem Bundeswahlgesetz - grundsätzlich analog zur Aufstellung von Kreiswahlvorschlägen. Zusätzlich ist festgelegt, dass die Reihenfolge der Landesliste in geheimer Wahl bestimmt werden muss.

Eine Landesliste von einer nicht im Bundestag oder in einem Landtag vertretenen Partei, die auch nicht eine nationale Minderheit vertritt, benötigt zu ihrer Zulassung die Unterzeichnung durch mindestens ein Promille der Wahlberechtigten in dem Land, höchstens jedoch von 2.000 Menschen. Die Vorschriften über Veränderung der Landeslisten und die Vertrauenspersonen finden entsprechende Anwendung.

Landeslisten der gleichen Partei gelten für die Berechnung der Sperrklausel grundsätzlich als verbunden, es sei denn, von den Vertrauenspersonen wird gegenüber dem Bundeswahlleiter eine andere Mitteilung gemacht.

Wahlsystem

Der Bundestag wird mit einem gemischten Wahlsystem gewählt, der so genannten personalisierten Verhältniswahl. Dem Wähler stehen bei der Wahl eine Erst- und eine Zweitstimme zur Verfügung (siehe Abbildung, Punkt 1).

Erststimme

Mit der Erststimme werden Direktmandate an die Kandidaten der Wahlkreise, die sich für ein Mandat im Bundestag bewerben, vergeben (siehe Abbildung, Punkt 2). Gewählt wird nach dem relativen Mehrheitswahlrecht, gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhalten hat. Die Stimmen für die anderen Kandidaten werden verworfen. Bei Stimmengleichheit entscheidet das vom Kreiswahlleiter zu ziehende Los. Die Erststimme dient der Personalisierung der Wahl. Da zur Zeit 299 Wahlkreise existieren, werden 299 Mandate des Bundestages an die jeweils in den Kreisen gewählten Kandidaten vergeben.

Die Größe und geografische Form der Wahlkreise wird von einer vom Bundespräsidenten bestellten Wahlkreiskommission überprüft; die endgültige Entscheidung trifft der Bundestag mit einer Anlage zum Bundeswahlgesetz.

Zweitstimme

Mit der Zweitstimme wird eine Partei gewählt (siehe Abbildung, Punkt 3), deren Kandidaten auf einer Landesliste zusammengestellt werden. Die Zweitstimme ist die maßgebliche Stimme für die Sitzverteilung im Bundestag. Alle Sitze werden nach dem Verhältniswahlrecht an die Parteien vergeben, die die Sperrklausel (siehe unten) übertreffen. Die Mandatsverteilung erfolgt seit 1985 nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren.

Der Anteil der Sitze einer Partei entspricht damit größtenteils (Ausnahmen durch Überhangmandate und Sperrklausel) ihrem Anteil der erhaltenen Wahlstimmen (siehe Abbildung, Punkt 4). Nicht berücksichtigt werden dabei die Zweitstimmen der Wähler, die bereits mit ihrer Erststimme für einen erfolgreichen unabhängigen Direktkandidaten (einen Direktkandidaten ohne Partei oder einen Direktkandidaten, dessen Partei in dem Land keine Landesliste eingereicht hat) gestimmt haben, um eine doppelte Stimmgewichtung dieser Wähler zu vermeiden. Dieser Fall ist bisher seit Einführung der Erststimme nicht eingetreten. Ein prinzipiell ähnliches Problem trat bei der Bundestagswahl 2002 auf. Die PDS erreichte in Berlin zwei Direktmandate, scheiterte jedoch sowohl an der 5%-Sperrklausel als auch an der Grundmandatsklausel. Die Zweitstimmen der Wähler, die diese beiden erfolgreichen Direktkandidaten gewählt hatten, wurden trotzdem gezählt, da in diesem Fall bei Kandidaten sowohl einer Partei angehören als auch diese Partei eine Landesliste eingereicht hatte. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Beschluss vom 23. November 1988 (BVerfGE 79, 161) auf eine diesbezügliche "Regelungslücke" hingewiesen.

Sperrklausel

Bundestagsmandate über die Landesliste werden nur an Parteien vergeben, die die Sperrklausel überwinden: Dazu müssen sie entweder die Fünf-Prozent-Hürde überwinden und mehr als fünf Prozent der gültigen Zweitstimmen auf sich vereinen oder mindestens drei Direktmandate erringen. Die Stimmen für Parteien, die diese Hürde nicht überwinden, werden verworfen. Die Sperrklausel soll die Parteienzersplitterung verhindern, die in der Weimarer Republik das Parlament teilweise handlungsunfähig machte. Sie wird vom Grundgesetz nicht ausdrücklich gebilligt; das Bundesverfassungsgericht hat jedoch gegen seine Anwendung keine verfassungsrechtlichen Einwände, da die Sicherung einer handlungsfähigen Regierung ebenfalls ein verfassungsrechtlich gebotenes Gut ist. Die Fünfprozenthürde gilt nicht für Parteien nationaler Minderheiten wie etwa für den SSW, der jedoch zuletzt 1961 an einer Bundestagswahl teilgenommen hat.

Die Direktmandatsklausel stärkt regional sehr starke Parteien wie die Deutsche Partei in Niedersachsen, die 1957 nach Einführung der Direktmandatsklausel von drei Kandidaten (zuvor musste nur ein Kandidat direkt gewählt werden) - auch nach Absprache mit der CDU - noch sechs Direktmandate erreichte und damit bei einem Stimmenanteil von 3,4 % noch 17 Sitze im Bundestag erhielt. Schon 1953 hatte die DP zehn Direktmandate errungen und damit trotz Unterschreitens der Fünfprozenthürde, die damals zum ersten Mal bundesweit galt, mit 3,3 % 15 Bundestagsmandate bekommen.

1994 kam diese Klausel erstmals wieder einer Partei zugute: Die PDS erzielte in Berlin vier Direktmandate und erhielt 30 Mandate im Bundestag, obwohl sie nur 4,4 % der Zweitstimmen auf sich hatte vereinigen können.

Endgültige Sitzverteilung

Zunächst wird von der Gesamtzahl der Abgeordneten (598) die Zahl derjenigen Direktkandidaten abgezogen, deren Partei nicht als solche den Einzug in den Bundestag geschafft hat. Bei der Bundestagswahl 2002 waren dies die beiden Direktkandidaten der PDS.

Die verbleibenden Mandate (im Jahr 2002 also 596) werden zunächst auf die Parteien verteilt, welche die Sperrklausel überwunden haben (2002 also die SPD, die CDU, die CSU, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP). Danach werden die Mandate, die eine Partei errungen hat (die SPD bei der Wahl 2002 zum Beispiel 247), auf die einzelnen Landeslisten der Parteien verteilt: Dabei wird die Anzahl der Zweitstimmen, die in dem Land auf die Partei entfallen sind, ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Zweitstimmen einer Partei gesetzt, damit erfolgt auch diese Verteilung nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren. Sind die Stimmenanteile zweier Parteien oder zweier Landeslisten gleich, so entscheidet das vom Bundeswahlleiter zu ziehende Los.

Nach diesem Verfahren ist endgültig festgelegt, wie viele Mandate einer jeden Landesliste zustehen. Danach wird ermittelt, welche Personen tatsächlich in den Bundestag einziehen:

Zunächst erhalten die siegreichen Direktkandidaten der Partei in dem betreffenden Land ihre Mandate (siehe Abbildung, Punkt 5). Stehen der Partei darüber hinaus Mandate zu, so rücken die Kandidaten, die auf der Landesliste stehen, in ihrer Reihenfolge nach, wobei Kandidaten, die bereits direkt in ihrem Wahlkreis gewählt wurden, übersprungen werden.

Werden in einem Bundesland von einer Partei aber mehr Direktmandate erreicht als ihr insgesamt Mandate nach den Zweitstimmen zustehen, so ziehen die überzähligen Wahlkreisabgeordneten als Überhangmandate in den Bundestag ein. Sie werden nicht auf die Sitze, die einer Partei nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zustehen, angerechnet. Die Zahl der Bundestagsabgeordneten nimmt daher um die Zahl der Überhangmandate zu. Ausgleichsmandate gibt es nicht. 1998 gab es 13 und 2002 fünf Überhangmandate. Scheidet ein Bundestagsabgeordneter, der in einem Wahlkreis eines Bundeslandes gewählt wurde, in dem seine Partei mehr Direktmandate erzielt hat als ihr nach dem Verhältnisausgleich zustehen, aus dem Bundestag aus, so bleibt das Mandat unbesetzt und kein Listennachfolger rückt nach. Auch in der aktuellen Legislaturperiode ist diese Regelung nach dem Tod der SPD-Abgeordneten Anke Hartnagel und dem Mandatsverzicht von Christoph Matschie zum Tragen gekommen, so dass der Bundestag aus nur noch 601 Abgeordneten besteht.

Vor- und Nachteile des gültigen Bundestagswahlrechts

Das Wahlverfahren für den Bundestag ist kompliziert; insbesondere die Wichtigkeit der Zweitstimme wird manchmal unterschätzt. Das Wahlverfahren vereint allerdings viele der Vorteile von Mehrheits- und Verhältniswahl. Es hat sich inzwischen gezeigt, dass mit dem Wahlverfahren eine im Wesentlichen proportionale Sitzverteilung, stabile Regierungen, Regierungswechsel, der Einzug neuer Parteien ins Parlament und ein im Vergleich zum Reichstag der Weimarer Republik handlungsfähiger Bundestag gewährleistet wird. Überlegungen der großen Parteien zur Einführung des Mehrheitswahlrechts, wie es sie zu Beginn der Großen Koalition 1966 gab, sind momentan nicht aktuell.

Das Bundestagswahlrecht zieht allerdings auch wesentliche Kritik auf sich. Die Überhangmandate an sich sind bereits problematisch, da mit ihnen der Proporz (aus den Zweitstimmen) verzerrt wird. Hier wird vom Bundesverfassungsgericht argumentiert, dass diese Besonderheit durch den Wunsch des Gesetzgebers nach regionaler Ausgeglichenheit der Mitglieder des Bundestag gedeckt ist. Nebenprodukt der Überhangmandate ist jedoch die paradoxe Möglichkeit, dass eine Partei mehr Mandate im Bundestag erhielte, wenn sie (in bestimmten Bundesländern) weniger Zweitstimmen erhalten hätte, oder umgekehrt. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu diesem als negatives Stimmgewicht bekannte Problem bisher nicht geäußert.

Wahlprüfung

Binnen zwei Monaten nach der Bundestagswahl kann vom jedem Wähler die Wahlprüfung beantragt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes muss der Wahlprüfungsausschuss des Bundestages einen Einspruch ablehnen, wenn sich die Mandatsverteilung auch bei Annahme des Einspruches nicht ändern würde. Der Wahlprüfungsausschuss prüft nur die korrekte Anwendung des Bundeswahlgesetzes. Eine etwaige Verfassungswidrigkeit desselben wird von ihm nicht festgestellt.

Wird der Einspruch vom Bundestag abgelehnt, so kann binnen weiterer zwei Monate beim Bundesverfassungsgericht eine Wahlprüfungsbeschwerde erhoben werden. Der Beschwerde müssen 100 Wahlberechtigte beitreten.

Ist der Einspruch erfolgreich, so endet die Mitgliedschaft des betroffenen Mitglieds des Bundestages. Dieser kann gegen die Entscheidung seinerseits klagen.

Bislang war keine Wahlprüfungsbeschwerde gegen eine Entscheidung des Deutschen Bundestages erfolgreich, auch wenn die Richter einem Beschwerdeführer in der Sache Recht gaben.

Geschichte des Bundestagswahlrechts

Vergleich zum Wahlrecht der Weimarer Republik

Das Reichstagswahlrecht in der Weimarer Republik war dem Bundestagswahlrecht nicht unähnlich: Zwar hatte der Wähler nur eine Stimme, die er auf eine Wahlkreisliste abgeben konnte, doch wurde die Sitzzahl auch nach dem Verhältniswahlrecht bestimmt. Da es eine feste Zuteilung von Stimmenzahl und Sitzzahl gab (grundsätzlich 60.000 Stimmen für einen Sitz im Reichstag, St. Lague-Schepers), konnte die Anzahl der Reichstagsmandate deutlich schwanken. So bestand die Nationalversammlung im Jahr 1919 aus 421 Mitgliedern, während der letzte Reichstag 1933 647 Mitglieder hatte. Die 36 Wahlkreise waren in 16 Wahlkreisverbände unterteilt, die jeweils für die Sitzverteilung zusammengefasst wurden. Eine Partei musste mindestens 30.000 Stimmen in einem Wahlkreis oder 60.000 Stimmen in einem Wahlkreisverband erreichen, um einen Sitz zu bekommen. Auch dieses System stärkte regionale Parteien, da sie leichter die notwendige Stimmenzahl in ihrer Region erreichen konnten.

Wahl zum 1. Deutschen Bundestag (14. August 1949)

Die Wahl zum 1. Deutschen Bundestag fand unter einem völlig anderen Wahlrecht statt als heute. Da sich der Parlamentarische Rat nicht auf eine Festlegung des Wahlrechtes im Grundgesetz verständigen konnte, wurde das Wahlgesetz von den Ministerpräsidenten der Länder erlassen. Das aktive Wahlrecht besaß, wer das 21. Lebensjahr, das passive Wahlrecht, wer das 25. Lebensjahr vollendet hatte.

Der Bundestag sollte 402 Sitze umfassen. Es gab allerdings 242 Wahlkreise, sodass zum einzigen Mal in der Geschichte des Bundestagswahlrechts die Zahl der Wahlkreise nicht genau der Hälfte der zu besetzenden Mandate entsprach. Hinzu kamen 19 Berliner Abgeordnete.

Jedes Bundesland bildete ein eigenständiges Wahlgebiet; die Sitzzahl der Vertreter eines Bundeslandes war im Vorhinein festgelegt. Entsprechend galt auch die Fünfprozenthürde und die Grundmandatsklausel (bereits ein Direktmandat genügte zum Einzug in den Bundestag) jeweils nur landesweit.

Jeder Wähler hatte nur eine Stimme; diese zählte gewissermaßen gleichzeitig als Erst- und Zweitstimme im heutigen Sinn: Mit dieser einen Stimme wurde ein Kandidat im Wahlkreis und zugleich eine (landesweite) Parteiliste gewählt. Schied ein Direktkandidat aus dem Bundestag aus, so musste im Wahlkreis neu gewählt werden. Dies geschah 14 Mal.

Die nur jeweils landesweit gültige Fünfprozenthürde war für regionale Parteien von Vorteil. Auch erreichten - einzigartig in der Geschichte von Bundestagswahlen - drei unabhängige Direktkandidaten den Bundestag.

Die Stimmen wurden nach dem d'Hondtschen Verfahren ausgezählt, was im Zusammenhang mit der jeweils nur bundeslandweiten Auszählung die großen Parteien stärkte.

Wahl zum 2. Deutschen Bundestag (6. September 1953)

Erstmals wurde bei der Wahl zum 2. Deutschen Bundestag nach einem vom Bundestag selbst erlassenen Gesetz gewählt. Dieses Gesetz enthielt einige bedeutende Neuerungen im Vergleich zum alten Wahlgesetz:

Wichtigste Änderung war die Einführung der Erststimme. Damit wurde die Möglichkeit des Stimmensplittings eröffnet. Die Fünfprozenthürde galt von 1953 an bundesweit; die Mandatszahl wurde auf 484 (242 Wahlkreise) erhöht, hinzu kamen 22 Berliner Vertreter. Die Sperrklausel wurde für Parteien nationaler Minderheiten aufgehoben, trotzdem gelang dem SSW kein Wiedereinzug. Schied ein Abgeordneter aus, so rückte der Nächstplatzierte auf der betreffenden Landesliste nach.

Wahl zum 3. Deutschen Bundestag (5. September 1957)

Seit 1957 wird der Bundestag im Wesentlichen so gewählt wie heute. Es wurde die mehrstufige Sitzvergabe eingeführt, welche etwa das Problem des negativen Stimmgewichts mit sich brachte. Die Grundmandatsklausel wurde modifiziert: Nunmehr bedurfte es bundesweit drei Mandaten, um trotz Unterschreiten der Fünfprozenthürde anteilsgemäß in den Bundestag einzuziehen. Neben der Erweiterung des Bundestages auf 494 Mandate (247 Wahlkreise) nach dem Beitritt des Saarlandes wurde 1957 die Briefwahl eingeführt.

Diskussion um die Einführung des Graben- oder des Mehrheitswahlrechts

Ende 1955 legte die CDU/CSU zusammen mit der Deutschen Partei den Entwurf eines Grabenwahlsystems vor. Danach hätten 60 Prozent der Mandate durch das Mehrheitswahlrecht und nur noch 40 Prozent durch Verhältniswahlrecht bestimmt werden sollen. Doch dieser Versuch Adenauers, die Abhängigkeit der CDU/CSU von der FDP zu beenden und die Wahlchancen der SPD zu mindern, scheiterte.

Zu Beginn der Großen Koalition (1966-1969) gab es starke Strömungen innerhalb der CDU/CSU und der SPD, vom Verhältniswahlrecht, das es seit 1949 gegeben hatte, abzugehen und bei folgenden Bundestagswahlen vielmehr das Mehrheitswahlrecht anzuwenden. Eine entsprechende Absicht wurde sogar im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Die FDP, der jedoch mit Einführung dieses Wahlrechts das Ende ihrer Existenz gedroht hätte, protestierte lautstark gegen die Pläne. Schließlich scheiterte das Mehrheitswahlrecht aber am Widerstand der SPD, die in seiner Einführung schlussendlich keine Vergrößerung ihrer Machtchancen erkannte. Daraufhin trat Innenminister Paul Lücke am 2. April 1968 von seinem Amt zurück. Seither hat es keine Versuche mehr gegeben, ein Mehrheitswahlrecht in Deutschland einzuführen.

Senkung des Wahlalters

Nach einer Neuverteilung der Bundestagsmandate auf 496 im Jahr 1965 gab es 1972 den ersten Eingriff ins Wahlalter.

Bereits mit der Grundgesetzänderung vom 31. Juli 1970 wurde Artikel 38 so geändert, dass zum aktiven Wahlrecht die Vollendung des 18. Lebensjahres, zum passiven Wahlrecht die Volljährigkeit (damals noch 21 Jahre) genügte. Erst 1975 und damit rechtzeitig zur Bundestagswahl 1976 wurde (durch einfaches Bundesgesetz) die Volljährigkeitsgrenze von 21 auf 18 Jahre heruntergesetzt, sodass seither aktives und passives Wahlrecht altermäßig zusammenfallen.

Einführung des Verfahrens nach Hare und Niemeyer

Zur Bundestagswahl 1987 wurde das Sitzberechnungsverfahren von d'Hondt zum Hare-Niemeyer-Verfahren umgestellt. Auf diese Weise wurde die Bevorzugung großer Parteien, die d'Hondt impliziert, abgeschafft. Allerdings wurde durch das Hare-Niemeyer-Verfahren die Gefahr von Paradoxa, etwa des Alabama-Paradoxons und des negatives Stimmgewichts, erhöht. Zur gleichen Bundestagswahl wurde das Wahlrecht für im Ausland lebende Deutsche eingeführt.

Sonderregelung für die Bundestagswahl 1990

Kurz vor der Bundestagswahl 1990 am 2. Dezember 1990 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass die Situation des gerade wiedervereinten Deutschlands einen besonderen Umstand darstelle, der die Anwendung der Fünfprozenthürde - auf das gesamte Wahlgebiet bezogen - verfassungswidrig mache. Aus diesem Grund fand die Bundestagswahl 1990 mit zwei Wahlgebieten statt, in denen die Fünfprozenthürde jeweils getrennt angewandt wurde: die bisherige Bundesrepublik Deutschland einschließlich West-Berlin einerseits und die ehemalige DDR einschließlich Ost-Berlin andererseits.

Der neue Bundestag umfasste grundsätzlich 656 Abgeordnete aus 328 Wahlkreisen; die Sonderregelung für die (West-)Berliner Abgeordneten, die seit 1949 Bestand gehabt hatte, wurde abgeschafft.

Senkung der Abgeordnetenzahl 2002

Zur Bundestagswahl 2002 wurde die Anzahl der Mitglieder des Bundestages von 656 aus 328 Wahlkreisen auf 598 aus 299 Wahlkreisen reduziert. Damit wurde auch die seit 1990 bestehende einfache Hinzufügung einer entsprechenden Anzahl von Wahlkreisen zu den seit 1965 bestehenden (westdeutschen) Wahlkreisen zugunsten von völlig neu geplanten Wahlkreisen abgeschafft.

Ausblick

Auf Empfehlung des Bundestages und des Bundeswahlleiters wird zur Zeit von der Bundesregierung geprüft, das Auszählverfahren abermals zu ändern: Die Einführung des Verfahrens nach St. Lague-Schepers bedeutete die Abschaffung der Hare-Niemeyer-immanenten Paradoxien (zum Beispiel dem Alabama-Paradoxon). Wird das Bundestagswahlrecht aber nicht grundlegender geändert, so bleibt etwa die Problematik des negativen Stimmgewichts weiterhin bestehen.

Siehe auch: Chronologische Liste der Bundestagswahlen, Ergebnisse der bisherigen Bundestagswahlen

Weblinks

Literatur

  • Erhard H. M. Lange: Wahlrecht und Innenpolitik. Entstehungsgeschichte und Analyse der Wahlgesetzgebung und Wahlrechtsdiskussion im westlichen Nachkriegsdeutschland 1945 - 1956. Hain, Meisenheim am Glan 1975, ISBN 3-445-01152-4
  • Helmut Nicolaus: Grundmandatsklausel, Überhangmandate & Föderalismus: fünf Studien. Manutius-Verlag, Heidelberg 1996, ISBN 3-925 678 66-2
  • Dieter Nohlen: Wahlrecht und Parteiensystem, 4. Auflage, UTB, Stuttgart, 2004, ISBN 3-8252-1527-X
  • Wolfgang Schreiber: Handbuch des Wahlrechts zum Deutschen Bundestag. Kommentar zum Bundeswahlgesetz; unter Einbeziehung des Wahlprüfungsgesetzes, des Wahlstatistikgesetzes, der Bundeswahlordnung, der Bundeswahlgeräteverordnung und sonstiger wahlrechtlicher Nebenvorschriften. 7. Auflage. Heymann, Köln 2002, ISBN 3-452-25141-1
  • Karl-Heinz Seifert: Bundeswahlrecht. Wahlrechtsartikel des Grundgesetzes, Bundeswahlgesetz, Bundeswahlordnung und wahlrechtliche Nebengesetze. 3. Auflage. Vahlen, München 1976, ISBN 3-8006-0596-1