„Kriegsenkel“ – Versionsunterschied

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[[Vertriebenenverband|Vertriebenenverbände]] sprechen auch von einer „Kriegsenkel-Bewegung“.<ref>Joachim Süss: ''Das hört nie auf. Traumata in den nächsten Generationen.'' Kronprinzenpalais zu Berlin, 10. Mai 2012, DVD, hrsg. von der Stiftung [[Zentrum gegen Vertreibungen]] und vom Frauenverband im [[Bund der Vertriebenen|BdV e.V.]], Berlin, 2012</ref>
[[Vertriebenenverband|Vertriebenenverbände]] sprechen auch von einer „Kriegsenkel-Bewegung“.<ref>Joachim Süss: ''Das hört nie auf. Traumata in den nächsten Generationen.'' Kronprinzenpalais zu Berlin, 10. Mai 2012, DVD, hrsg. von der Stiftung [[Zentrum gegen Vertreibungen]] und vom Frauenverband im [[Bund der Vertriebenen|BdV e.V.]], Berlin, 2012</ref>

Kritiker bemängeln die Entstehung einer pluralen Erinnerungskultur, die via negativer Identitätsbildung eine Ethik des gleichberechtigten Gedächtnisses von Opfern und Tätern favorisiert, wenn sich Deutsche als eigentlich Leidtragende des [[Nationalsozialismus]] präsentieren. Dies bedeute die Abwiegelung von kausalen historischen Zusammenhängen, Schuld- und Verantwortungsspezifik.<ref>[http://jd-jl-rlp.de/2008/12/konzeptfeindlicheuebernahme/ ''German Gedächtnis – Das Konzept einer feindlichen Übernahme''] [[JungdemokratInnen/Junge Linke]] Rheinland-Pfalz, 10. Dezember 2008</ref>


== Literatur ==
== Literatur ==

Version vom 20. August 2018, 00:39 Uhr

Kriegsenkel sind Kinder von Kriegskindern des Zweiten Weltkriegs.

Der Begriff entstammt der populärwissenschaftlichen Literatur[1][2][3] und steht für die unbewußte generationsübergreifende Vermittlung von Traumata, die sich bei den Kriegskindern auf die NS- und Kriegszeit zurückführen lassen,[4] aber auch auf die politische Verfolgung in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR.[5]

Aus psychoanalytischer Sicht handelt es sich um eine spezifische Form der Übertragung, von Sigmund Freud 1929 in Totem und Tabu als Gefühlserbschaft bezeichnet. Die unbewusste Übermittlung von Erfahrungen zwischen Eltern und Kindern wurde zuerst bei den Kindern von Holocaust-Überlebenden und NS-Tätern untersucht.[6][7][8]

Der Begriff hat in Deutschland und Österreich eine starke identifikatorische Kraft entfaltet und wird inzwischen von zahlreichen Vertretern der Jahrgänge ab ca. 1960 wie eine Selbstbezeichnung verwendet.[9] Es treten zunehmend auch Menschen an die Öffentlichkeit, die sich als „Kriegsurenkel“ verstehen. Sie sind die Kinder der Kriegsenkel.[10]

Bedeutung

Die Zuordnung zu den Kriegsenkeln wie auch zu den Kriegskindern erfolgt nicht in erster Linie nach den Jahrgängen, wenn diese auch die Alterskohorte der jeweiligen Gruppe in etwa bestimmen. Wichtig ist vielmehr, welcher Gruppe man sich aufgrund der eigenen Lebenszusammenhänge zugehörig sieht. Die Popularisierung des Begriffs Kriegsenkel erklärt sich aus der Tatsache, dass er Zusammenhänge zwischen den Generationen deutlich macht, die in Deutschland noch um die Jahrtausendwende so nicht thematisiert wurden, und die geeignet erscheinen, die eigene Lebensgeschichte neu zu interpretieren und vollständiger zu verstehen.

Eng mit dem Begriffskomplex Kriegsenkel verbunden ist der Terminus „transgenerationale Weitergabe kriegsbedingter Belastungen“. Er wurde von dem Sozialpsychologen und Altersforscher Hartmut Radebold um 2005 in die Diskussion eingeführt.[11] Darunter ist zu verstehen, dass schwerwiegende Erfahrungen im NS-System und während des Zweiten Weltkrieges, also Täterschaft und Schuldverstrickung, Fronteinsätze, Flucht und Vertreibung, Bombenangriffe auf Deutschland und Haft bzw. Konzentrationslager jeweils bewusst oder unbewusst an die Folgegenerationen weitergegeben werden können und damit das Leben von Menschen schwer belasten, die zum Teil Jahrzehnte nach den Ereignissen geboren wurden.[9] Als Kriegskinder gelten dabei ungefähr die Geburtsjahrgänge 1930 bis 1940, deren Angehörige den Krieg als Kinder und Jugendliche erlebten. Wurden sie dabei traumatisiert, reagierten sie, so die Hypothese, auf die verdrängten Traumata als Erwachsene stets in ähnlicher Weise: als charakteristisch gelten insbesondere Verlustangst, Schuldgefühle, depressive Verstimmungen und emotionale Verschlossenheit. Dies schuf wiederum ein Umfeld, das unbeabsichtigt vielfach auch die emotionale Entwicklung der Kriegsenkel nachhaltig gestört haben könnte. Als typisch gelten bei den Kriegsenkeln eine Rollenumkehr zwischen Eltern und Kindern sowie diffuse Gefühle der Heimatlosigkeit, des Nicht-Angekommen- und Nicht-Angenommenseins, Bindungsprobleme sowie fehlendes Selbstwertgefühl.

Weil es also den Horizont über die eigene Lebensspanne hinaus in die Vergangenheit erweitert, ermöglicht das Konzept Kriegsenkel, offene Fragen im Kontext der eigenen Biografie und der eigenen Persönlichkeit zu analysieren, die bislang vielleicht nicht schlüssig aus den eigenen Lebenszusammenhängen zu erklären waren. Mithin erlaubt es also, Erfahrungen persönlichen Scheiterns, emotionale Störungen, existenzieller Brüche, Suchtverhalten oder Depressionen vor dem Hintergrund der eigenen Familiengeschichte als transgenerationale Folgen belastender bis traumatischer Erfahrungen der Eltern neu zu deuten und dadurch in einen anderen Verständnisrahmen einzuordnen. Die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte im und nach dem Zweiten Weltkrieg wird dabei vielfach als befreiend erlebt, vorher als diffus wahrgenommene Gefühlslagen klären sich nun.[9]

Die Karriere des Begriffs Kriegsenkel lässt sich somit aus seiner entlastenden Funktion erklären: Wird die eigene Lebensgeschichte nämlich aus generationsübergreifender Sicht interpretiert, kann die Urheberschaft bzw. Schuld an negativen Erfahrungen und Anteilen an die Vorgängergeneration delegiert werden. Die damit verbundene Gefahr besteht freilich darin, sich gleichsam hinter dem Begriff zu verstecken und damit eine produktive und heilende Auseinandersetzung mit problematischen Aspekten der eigenen Familien- und Lebensgeschichte zu verweigern.[9]

Öffentliche Rezeption

2012 fand ein psychohistorischer Kongress an der Universität Göttingen unter dem Titel Die Kinder der Kriegskinder und die späten Folgen des NS-Terrors statt.[12] 2018 stand die Verantaltung unter dem Titel Gewalt und Trauma: Direkte und transgenerationale Folgen für Individuen, Bindungen und Gesellschaft - Kriegsenkel, Kinder aus neuen Kriegen, Betroffene familiärer und institutioneller Gewalt.[13]

Vertriebenenverbände sprechen auch von einer „Kriegsenkel-Bewegung“.[14]

Kritiker bemängeln die Entstehung einer pluralen Erinnerungskultur, die via negativer Identitätsbildung eine Ethik des gleichberechtigten Gedächtnisses von Opfern und Tätern favorisiert, wenn sich Deutsche als eigentlich Leidtragende des Nationalsozialismus präsentieren. Dies bedeute die Abwiegelung von kausalen historischen Zusammenhängen, Schuld- und Verantwortungsspezifik.[15]

Literatur

  • Bettina Alberti: Seelische Trümmer: Geboren in den 50er und 60er-Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas. Kösel, München 2010, ISBN 978-3-466-30866-8.
  • Udo Baer, Gabriele Frick-Baer: Wie Traumata in die nächste Generation wirken - Untersuchungen, Erfahrungen, therapeutische Hilfen. 4. Auflage, Affenkönig, Neukirchen-Vluyn 2014, ISBN 978-3-934-93333-0.
  • Udo Baer, Gabriele Frick-Baer: Kriegserbe in der Seele. Was Kindern und Enkeln der Kriegsgeneration wirklich hilft. 1. Auflage. Beltz, Weinheim 2015, ISBN 978-3-407-85740-8.
  • Gabriele Baring: Die geheimen Ängste der Deutschen. Wie der Zweite Weltkrieg bis heute emotional in den Deutschen nachwirkt. Scorpio, Berlin/ München 2011, ISBN 978-3-942166-46-1.
  • Gabriele Baring: Das Drama der Kriegsenkel: Symptome, Muster und Traumen der dritten Generation. In: Vertreibung, Verständigung, Versöhnung. Hess, Bad Schussenried 2011, ISBN 978-3-87336-372-4.
  • Kathleen Battke: Trümmerkindheit. Erinnerungsarbeit und biographisches Schreiben für Kriegskinder und Kriegsenkel. Kösel, München 2013, ISBN 978-3-466-30989-4.
  • Heike Knoch, Winfried Kurth, Heinrich J. Reiß, Götz Egloff (Hrsg.): Die Kinder der Kriegskinder und die späten Folgen des NS-Terrors (= Jahrbuch für psychohistorische Forschung. Band 13). Mattes, Heidelberg 2012, ISBN 978-3-86809-070-3.
  • Matthias Lohre: Das Erbe der Kriegsenkel. Was das Schweigen der Eltern mit uns macht. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh, München 2016, ISBN 978-3-579-08636-1.
  • Raymond Unger: Die Heimat der Wölfe - Ein Kriegsenkel auf den Spuren seiner Familie - Eine Familienchronik. Europa Verlag Berlin, 2016, ISBN 978-3958900141.

Weblinks

Commons: Kriegsenkel – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Katharina Ohana: Ich, Rabentochter. Erstauflage, 2006
  2. Anne-Ev Ustorf: Wir Kinder der Kriegskinder. Die Generation im Schatten des Zweiten Weltkrieges. Freiburg i.Br., 2008
  3. Sabine Bode: Kriegsenkel. Die Erben der vergessenen Generation. Stuttgart, 2009
  4. Angela Moré: Die unbewusste Weitergabe von Traumata und Schuldverstrickungen an nachfolgende Generationen Journal für Psychologie 2013
  5. Silke Hasselmann: Traumavererbung: Bis ins vierte Glied - Traumata prägen auch die Kinder Deutschlandfunk, 26. Janaur 2016
  6. Dan Bar-On: Die Last des Schweigens. Frankfurt am Main (Campus), 1993
  7. Martin S. Bergmann, Milton E.Jucovy, Judith S. Kestenberg (Hrsg.): Kinder der Opfer – Kinder der Täter. Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt am Main, 1995
  8. Angela Moré: Im Schatten der Schuld: Psychische Belastungen bei den Nachkommen von Tätern und Täterinnen 2016
  9. a b c d Joachim Süss: Was sind Kriegsenkel?
  10. Rasmus Rahn: Verdrängung, Verdruss, Verantwortung? Kriegsurenkel und der lange Schatten unserer Vergangenheit. In: Joachim Süss, Michael Schneider: Nebelkinder. Kriegsenkel treten aus dem Traumaschatten der Geschichte. Berlin u. a. 2015, S. 361–369.
  11. Hartmut Radebold, Werner Bohleber, Jürgen Zinnecker (Hrsg.): Transgenerationale Weitergabe kriegsbelasteter Kindheiten. Interdisziplinäre Studien zur Nachhaltigkeit historischer Erfahrungen über vier Generationen. Juventa, Weinheim/ München 2008
  12. Heike Knoch u. a.: Die Kinder der Kriegskinder und die späten Folgen des NS-Terrors. Heidelberg 2012.
  13. 32. Jahrestagung der Gesellschaft für Psychohistorie und politische Psychologie (GPPP), 13. - 15. April 2018, Göttingen Tagungsankündigung
  14. Joachim Süss: Das hört nie auf. Traumata in den nächsten Generationen. Kronprinzenpalais zu Berlin, 10. Mai 2012, DVD, hrsg. von der Stiftung Zentrum gegen Vertreibungen und vom Frauenverband im BdV e.V., Berlin, 2012
  15. German Gedächtnis – Das Konzept einer feindlichen Übernahme JungdemokratInnen/Junge Linke Rheinland-Pfalz, 10. Dezember 2008