„Itelmenen“ – Versionsunterschied

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Steller wunderte sich, dass diese fröhliche, dem Tanz und der Musik zugewandte Nation „keine eigenen Musikinstrumente" erfunden habe, wobei er offenbar sowohl die auf Kamtschatka omnipräsente schamanische [[Rahmentrommel]] als auch die menschliche Stimme nicht mitzählte. Allerdings vermochte er „sich nicht genug über ihre Gesänge zu verwundern, welche gar nichts Wildes in sich enthalten, sondern cantabel und nach den Regeln der Musik, dem Takte und Kadenzen dergestalt wohl eingerichtet sind, dass man sich dergleichen bei diesem Volke nimmermehr vermuten sollte. Wenn man die [[Kantate|Kantaten]] des großen [[Orlando di Lasso|Orlandi Lassi]] (sic!) ansieht, damit er dem König in Frankreich [...] divertiert, so kommen solche [...] viel schlechter heraus als die [[Arie|Arien]] der Itelmenen, welche sie nicht nur alleine einstimmig singen, sondern auch einander mit Mittelstimmen zu sekundieren wissen." Er bescheinigt ihnen „auch sehr feine und angenehme Stimmen und ganz außerordentliche Manieren, Überspringungen und Modulationen in der Gurgel, die [...] von den Italienern nicht sogleich sollten imitiert werden."<ref>{{Literatur |Autor=Georg Wilhelm Steller |Titel=Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. Unveränd. Neudruck des 1774 in Frankfurt, 1793 in St. Petersburg erstmals erschienenen Werkes |Hrsg=Erich Kasten, Michael Dürr |Verlag=Kulturstiftung Sibirien SEC Publications |Ort=Fürstenberg/Havel |Datum=2013 |Seiten=207}}</ref> [[Datei:Itelmenische Air.png|mini|Faksimile aus G. W. Steller: Kamtschatka (1774), S. 304]]
Steller wunderte sich, dass diese fröhliche, dem Tanz und der Musik zugewandte Nation „keine eigenen Musikinstrumente" erfunden habe, wobei er offenbar sowohl die auf Kamtschatka omnipräsente schamanische [[Rahmentrommel]] als auch die menschliche Stimme nicht mitzählte. Allerdings vermochte er „sich nicht genug über ihre Gesänge zu verwundern, welche gar nichts Wildes in sich enthalten, sondern cantabel und nach den Regeln der Musik, dem Takte und Kadenzen dergestalt wohl eingerichtet sind, dass man sich dergleichen bei diesem Volke nimmermehr vermuten sollte. Wenn man die [[Kantate|Kantaten]] des großen [[Orlando di Lasso|Orlandi Lassi]] (sic!) ansieht, damit er dem König in Frankreich [...] divertiert, so kommen solche [...] viel schlechter heraus als die [[Arie|Arien]] der Itelmenen, welche sie nicht nur alleine einstimmig singen, sondern auch einander mit Mittelstimmen zu sekundieren wissen." Er bescheinigt ihnen „auch sehr feine und angenehme Stimmen und ganz außerordentliche Manieren, Überspringungen und Modulationen in der Gurgel, die [...] von den Italienern nicht sogleich sollten imitiert werden."<ref>{{Literatur |Autor=Georg Wilhelm Steller |Titel=Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. Unveränd. Neudruck des 1774 in Frankfurt, 1793 in St. Petersburg erstmals erschienenen Werkes |Hrsg=Erich Kasten, Michael Dürr |Verlag=Kulturstiftung Sibirien SEC Publications |Ort=Fürstenberg/Havel |Datum=2013 |Seiten=207}}</ref> [[Datei:Itelmenische Air.png|mini|Faksimile aus G. W. Steller: Kamtschatka (1774), S. 304]]
Einige dieser Lieder sind seinerzeit von Steller vor Ort transcribiert und später (1774) als Faksimile gedruckt worden - zum Beispiel die eingefügte Skizze einer Air.
Einige dieser Lieder sind seinerzeit von Steller vor Ort transcribiert und später (1774) als Faksimile gedruckt worden - zum Beispiel die eingefügte Skizze einer Air.

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Version vom 20. Mai 2021, 14:10 Uhr

Itelmene
Ursprüngliches Siedlungsgebiet der Itelmenen in Kamtschatka

Die Itelmenen sind eine indigene Bevölkerungsgruppe der Paläosibirier, die hauptsächlich im Gebiet Kamtschatka siedelt.

Der Name dieser ethnischen Gruppe bedeutet „hier leben“, sie umfasst 3193 Menschen (2010).

Kultur

Historisch

Sie siedelten ursprünglich von der Südspitze (Kap Lopatka) und der Ostküste Kamtschatkas nördlich bis zum Fluss Tigil und westlich bis zur Uka. Die alten Itelmenen-Siedlungen lagen an den Flüssen Kamtschatka (Uykoal'), Jelowka (Kooch), Bolschaja, Bystraja, Awatscha und den Küsten der Awatscha-Bucht (nahe Petropawlowsk-Kamtschatski). Den Wohnplatz der Itelmenen beschreibt man als Ostrog, der zu Beginn aus einer Familie bestand und sich im Laufe der Zeit vergrößerte. Die Art der Behausung war von den Jahreszeiten abhängig und unterschied sich in Winter- und Sommerwohnungen. Die Winterwohnungen wurden Ambaren genannt und bestanden aus halb in die Erde gebauten Hütten. Man verbrachte darin die Zeit von Anfang November bis Anfang April. Die Sommerwohnungen wurden dagegen auf Pfählen errichtet und wurden als Balagane bezeichnet. Aufgrund ihrer Höhe und der guten Belüftung wurden diese Bauten ebenso als Proviantspeicher genutzt.

Im Sommer spielte sich das Leben der Itelmenen am und auf dem Wasser ab. Sie bewegten sich in baumstammähnlichen Kanus fort, hergestellt aus einem Pappelstamm. Sie fischten mit aus Brennnesseln gewebten Netzen, harpunierten oder stellten Reusen auf. Ein Teil der Fische wurde getrocknet, ein anderer in speziellen Löchern aufbewahrt. Der Mangel an Salz erlaubte nur eine kleine Lagerhaltung. Die Jagd zur Pelz- und Fleischgewinnung hatte ebenfalls große wirtschaftliche Bedeutung. Bejagte Tierarten waren Rotfuchs, Zobel und Schneeschaf; an der Küste Seelöwe, Seehund und Seeotter.

Die Kleidung der Itelmenen wurde aus Zobelfellen, Fuchsfellen, Schnee-Bock oder auch Hundefellen gefertigt. Georg Wilhelm Steller, der Kamtschatka in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts bereiste, schrieb: „Die schönsten Kukhlyankas (Anoraks) sind am Kragen dekoriert, die Ärmel und der Saum mit Hunde-Fell, der Kaftan (kurzer Rentierfell-Overall) ist behängt mit Hunderten von rot angemalten Seehundfell-Quasten, welche bei jeder Bewegung herumbaumeln.“

Musik und Tanz

Steller wunderte sich, dass diese fröhliche, dem Tanz und der Musik zugewandte Nation „keine eigenen Musikinstrumente" erfunden habe, wobei er offenbar sowohl die auf Kamtschatka omnipräsente schamanische Rahmentrommel als auch die menschliche Stimme nicht mitzählte. Allerdings vermochte er „sich nicht genug über ihre Gesänge zu verwundern, welche gar nichts Wildes in sich enthalten, sondern cantabel und nach den Regeln der Musik, dem Takte und Kadenzen dergestalt wohl eingerichtet sind, dass man sich dergleichen bei diesem Volke nimmermehr vermuten sollte. Wenn man die Kantaten des großen Orlandi Lassi (sic!) ansieht, damit er dem König in Frankreich [...] divertiert, so kommen solche [...] viel schlechter heraus als die Arien der Itelmenen, welche sie nicht nur alleine einstimmig singen, sondern auch einander mit Mittelstimmen zu sekundieren wissen." Er bescheinigt ihnen „auch sehr feine und angenehme Stimmen und ganz außerordentliche Manieren, Überspringungen und Modulationen in der Gurgel, die [...] von den Italienern nicht sogleich sollten imitiert werden."[1]

Faksimile aus G. W. Steller: Kamtschatka (1774), S. 304

Einige dieser Lieder sind seinerzeit von Steller vor Ort transcribiert und später (1774) als Faksimile gedruckt worden - zum Beispiel die eingefügte Skizze einer Air.

Dieser Notentext - dreistimmig ausgesetzt - ist darunter als Klangbeispiel zu hören.

Inmitten detaillierter Beschreibungen und Choreografien verschiedener itelmenischen Tänze findet sich bei Steller auch ein erster Hinweis auf besondere Gesangstechniken: Spektralgesänge. „Und haben alle Glieder eine besondere und contraire Bewegung gegeneinander, dass man die Geschicklichkeit ihres Leibes so wenig mit Worten beschreiben, als zur Genüge bewundern kann. Unter dem Singen imitieren sie allerhand Tier- und Vögelgeschrei und machen solche Bewegungen in der Kehle, die kaum nachzumachen sind, und lautet nicht anders, als wenn zwei oder drei zugleich verschiedene Stimmen hören ließen. Hierin excelliert besonders das Frauenzimmer in Nischna und am Kamtschatka-Strom." (ebenda S. 209)

Alltag

Die Itelmenen verwendeten viel Fisch für ihre Speisen, bevorzugt gebacken (chuprik), und Fischkoteletts (tael'no), aßen die Sprossen von Shelamannik (Kamtschatka-Mädesüß), Morkovnik (Filipendium maxim) und Puchka (Heracleum dulce), letzteres bevor es brennende Eigenschaften annimmt. Gegen Skorbut wurden Zedernzapfen und getrockneter Lachs-Kaviar mit etwas Tee genommen. Ihr Essen wurde mit Seehundfett im Geschmack verbessert. Die Itelmenen-Frauen hatten den Brauch, Perücken zu tragen. Wer die größten und schönsten Perücken besaß, wurde am meisten beachtet. Deshalb trugen sie ihr eigenes Haar sehr kurz.

Gegenwart

Die itelmeische Tanzgruppe „Luch“ bei einer Darbietung am „Tag der Fischer“

Die aussterbende itelmenische Sprache bildet den kamtschadalischen Zweig der tschuktscho-kamtschadalischen Sprachen. Die über viele Jahrhunderte währende russische Einflussnahme auf die Itelmenen und andere kleine Völker Sibiriens hat kulturell zu einer weitgehenden Russifizierung geführt.[2] Demgegenüber hat jedoch bereits die Sowjetunion 1989 weitreichende Maßnahmen beschlossen, um diesen Prozess zu stoppen beziehungsweise umzukehren: So wurden muttersprachliche Schulklassen eingerichtet, um die Sprache zu erhalten. Lehrprogramme für Jagd und Pelztierzucht wurden eingeleitet. Diese Gesetze wurden nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion vom russischen Staat im Dezember 1991 übernommen.[3] In der Tat wendet man sich heute wieder alten Sitten und Gebräuchen zu. Es findet eine Rückbesinnung auf die ursprünglichen Wurzeln der itelmenischen Kultur statt. Dennoch ist die Situation des Volkes heute aufgrund der dauerhaften Wirtschaftskrise Russlands schwierig: Grundsätzlich ist das Leben eher ärmlich, Unterstützung durch die Regierung gibt es kaum. Der Fischfang spielt (vor allem in Form der Subsistenzwirtschaft) nach wie vor eine wichtige Rolle. Möglichkeiten für Geldeinkünfte gibt es wenig, unter anderem trägt hier die Führung von (Jagd)-Touristen dazu bei.

Religion

Bis zur Christianisierung durch die Russisch-Orthodoxe Kirche (Beginn im 17. Jahrhundert, nennenswert jedoch erst ab Ende des 19. Jahrhunderts)[4] war der sogenannte „klassische Schamanismus“ die ethnische Religion der Ilelmenen. Der Ethnologe Klaus E. Müller spricht hier von „Elementarschamanismus“ und meint damit die archaischste Form dieser spirituellen Praxis, die typisch für sibirische Ethnien war, bei denen die Jagd kulturell eine herausragende Rolle spielte.[5] Nach der Religion der Itelmenen wurde ein Rabe namens Kutka als der Schöpfer aller Dinge angesehen, und viele Riten, die ihre Wirtschaft beeinflussen sollten, waren ebenfalls mit Tieren verbunden. Mit den geistigen Wesen stand der Schamane in enger Verbindung. Er konnte Unheil erklären, Krankheiten heilen, Träume deuten und über die Seelen Verstorbener berichten. Wenn Erwachsene starben, setzte man sie den Hunden aus, Kinder dagegen setzte man in hohlen Bäumen bei.[2]

Die Christianisierung hat bei vielen abgelegenen Völkern Sibiriens nur oberflächlich stattgefunden, so dass synkretistische Mischreligionen heute häufig sind.[6]

Politischer Status

Politisch sind die Itelmenen der Gruppe der indigenen Völker des russischen Nordens, Sibiriens und des russischen Fernen Ostens zugeordnet, die im Dachverband RAIPON organisiert sind. Dieser hat die Aufgabe, die Rechte und Interessen der Urvölker auf internationaler Ebene zu vertreten. Bisher wurden nur mäßige Erfolge erzielt, weshalb ethnische Eigenständigkeit und ein ökologisch intakter Lebensraum keinesfalls gesichert sind. Die ungehinderte Nutzung des Landes als Nahrungs- und Einkommensquelle ist für die Itelmenen von großer Bedeutung, da auf der Halbinsel Kamtschatka die höchsten Lebenshaltungskosten Russlands herrschen.

Die regionale Vereinigung der Itelmenen Kamtschatkas heißt „Tchsanom“ und setzt sich vor allem für die Landrechte der Ureinwohner ein.

Literatur

  • Georg Wilhelm Steller: Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. Unveränd. Neudruck des 1774 in Frankfurt, 1793 in St. Petersburg erstmals erschienenen Werkes (PDF der Neuausgabe von 2013).
  • Erich Kasten: Lachsfang und Bärentanz: Die Itelmenen 250 Jahre nach ihrer Beschreibung durch Georg Wilhelm Steller. Bonn: Holos-Verlag, 1996. ISBN 3-86097-139-5 (PDF).
  • Erich Kasten: Steller und die Itelmenen – Die Bedeutung seines Werks für die ethnologische Forschung und für indigene Initiativen zum Erhalt von Kulturerbe bei den Itelmenen. In: Erich Kasten und Michael Dürr (Hg.) Georg Wilhelm Steller: Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. 2013, Fürstenberg/Havel: Kulturstiftung Sibirien. ISBN 978-3-942883-86-3 (PDF).

Siehe auch

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Georg Wilhelm Steller: Beschreibung von dem Lande Kamtschatka. Unveränd. Neudruck des 1774 in Frankfurt, 1793 in St. Petersburg erstmals erschienenen Werkes. Hrsg.: Erich Kasten, Michael Dürr. Kulturstiftung Sibirien SEC Publications, Fürstenberg/Havel 2013, S. 207.
  2. a b Hartmut Motz: Sprachen und Völker der Erde – Linguistisch-ethnographisches Lexikon. 1. Auflage, Band 1, Projekte-Verlag Cornelius, Halle 2007, ISBN 978-3-86634-368-9. S. 420.
  3. [URL https://www.gfbv.de/de/news/indigene-voelker-im-norden-russlands-und-sibiriens-174/.] In: Information der Gesellschaft für bedrohte Völker Südtirol, aus Die kleinen Völker des hohen Nordens und fernen Ostens Russlands. Ein aktueller Lagebericht mit geschichtlich-ethnographischer Einführung, Bozen 1998, abgerufen am 15. September 2019.
  4. Nikolai Fjodorowitsch Katanow: Christianisierung der indigenen Völker Sibiriens. Übersetzung der Veröffentlichung des Ministeriums für Bildung der Khakassky State University auf bildungsmaterialien.com, abgerufen am 30. Juni 2015.
  5. Klaus E. Müller: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. 4. Auflage, C. H. Beck, München 2010 (Originalausgabe 1997), ISBN 978-3-406-41872-3. S. 29–33.
  6. Die kleinen Völker des hohen Nordens und fernen Ostens Rußlands. Gesellschaft für bedrohte Völker - Südtirol, Bozen 1998.