Provenienzforschung

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Die Provenienzforschung (auch Provenienzrecherche, Provenienzerschließung oder Herkunftsforschung) widmet sich der Geschichte der Herkunft (Provenienz) von Kunstwerken und Kulturgütern. Sie wird als Teildisziplin der Geschichte beziehungsweise Kunstgeschichte verstanden. Idealerweise sind bei einem Exponat alle früheren Besitzverhältnisse (Provenienzen) bekannt. Besondere Herausforderungen gibt es bei Beutekunst und Raubkunst.

Grundlagen und Entwicklung

Die Provenienzforschung widmet sich der wissenschaftlichen Erforschung der Herkunft und der wechselnden Besitzerverhältnisse eines Kunstwerks, Kultur- oder Archivguts in Museen, Bibliotheken, Archiven, aber auch im Kunst- und Antiquitätenhandel.

Einerseits werden Daten ausgewertet, die sich direkt am betreffenden Objekt befinden: Rückseitenbeschriftungen, Künstler- und Eigentümervermerke bei Gemälden, handschriftliche Einträge, Marginalien, Widmungen, Initialen, Stempel oder Exlibris bei Büchern[1] und Archivalien. Andererseits werden externe Materialien wie Kataloge, Aktenbestände, Verkaufsunterlagen des Kunsthandels, Auktions- und Ausstellungskataloge, Archivalien oder Briefe auf Hinweise von früheren Besitzern untersucht.

Die Erforschung früherer Besitz- oder Obhutsverhältnisse dient unter anderem der Bestätigung der Originalität von Kulturgütern und insbesondere Kunstwerken und kann zu deren Wertsteigerung beitragen. Sie werden auch zur Rekonstruktion von Gelehrtenbibliotheken oder zur Gewinnung biographischer Daten genutzt. Insbesondere dient sie auch der Feststellung der Eigentumsverhältnisse.

Provenienzforschung nach der Washingtoner Erklärung

Die Provenienzforschung in den öffentlichen Museen und Sammlungen gewann 1998 mit der Unterzeichnung der Washingtoner Erklärung durch 44 Staaten an enormer Bedeutung. Die Unterzeichnerstaaten, auch Deutschland, haben sich unter anderem verpflichtet, Kunstwerke, die während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmt wurden, in ihren Beständen ausfindig zu machen, deren rechtmäßige Eigentümer zu suchen und faire und gerechte Lösungen zu finden. Die den meist jüdischen Opfern zwischen 1933 und 1945 entzogenen und geraubten Kunstwerke gingen vielfach in den Besitz von öffentlichen und privaten Sammlungen über. In der Nachkriegszeit fanden nur unzureichende Rückgaben statt, so dass sich auch heute noch mehrere tausend Kunstwerke aus ursprünglich jüdischem Eigentum, oft unerkannt, in den Museen befinden.[2] Mit der Verpflichtung, diese ungeklärten Provenienzen aufzudecken, wurde die Erforschung der Geschichte und Herkunft eines Kunstwerks zum arbeitsintensiven zentralen Forschungsfeld der Museumsarbeit, denn alle Kunstwerke, die vor 1945 entstanden sind und nach 1933 angekauft oder übernommen wurden, können theoretisch aus Raubkunstbeständen stammen.

Zwecks Informationsaustausch gründeten vier Provenienzforscherinnen im Jahr 2000 den Arbeitskreis Provenienzforschung. Seit 2014 ein Verein, sind heute rund 270 Wissenschaftler aus Europa und den USA Mitglied.

Am 28. März 2007 fand im Kulturausschuss des Bundestags eine Anhörung zur Raubkunst mit Juristen, Historikern und Museumsvertretern statt.[3] Deutlich wurde, dass für die geforderte Intensivierung der Provenienzforschung größere finanzielle Mittel zur Verfügung stehen müssen. 2008 wurde die Arbeitsstelle für Provenienzforschung am Institut für Museumsforschung der Staatlichen Museen zu Berlin – Stiftung Preußischer Kulturbesitz eingerichtet.[4] Sie hat die Aufgabe, Museen, Bibliotheken, Archive und andere öffentlich unterhaltene, Kulturgut bewahrende Einrichtungen bei der Provenienzrecherche insbesondere materiell zu unterstützen. Es wurde dazu ein Etat in Höhe von jährlich einer Million Euro zur Verfügung gestellt, die 2012 auf zwei Millionen erhöht wurden. Vorbildlich wird die Provenienzforschung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin, der Hamburger Kunsthalle und der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen bezeichnet. In diesen Museen wurden Stellen eingerichtet und mit Kunsthistorikern besetzt, die sich ausschließlich der Erforschung der Herkunft der Museumsexponate widmen.

Ende 2015 richtete auf Initiative der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach-Stiftung die Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Stiftung den bundesweit ersten Lehrstuhl zur Provenienzforschung ein und zusätzlich am Institut für Kunstgeschichte eine Juniorprofessur für Provenienzforschung.[5][6]

2016 wurde an der Universität Hamburg am Kunstgeschichtlichen Seminar für die Dauer von sechs Jahren eine Juniorprofessur für Provenienzforschung in Geschichte und Gegenwart eingerichtet.[7]

Erstmals am 10. April 2019 findet international der künftig im jährlichen Turnus wiederholte Tag der Provenienzforschung statt um das Thema und die Tätigkeit der Wissenschaftler in der breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Mehr als 60 Kulturinstitutionen in Deutschland, Großbritannien, Österreich, den Niederlanden und der Schweiz nehmen daran teil.

Lost-Art-Datenbank

In Magdeburg wurde als zentrale öffentliche Einrichtung eine Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste eingerichtet. Sie dokumentiert im Auftrag von Bund und Ländern über ihre weltweit frei zugängliche Internetdatenbank „Lost Art“[8] internationale Such- und Fundmeldungen sowohl zu NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern als auch zu im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg verbrachter Beutekunst. Mittlerweile verzeichnet die Datenbank zirka 100 .000 detailliert beschriebene Objekte aus den genannten Bereichen, ebenso wie zahlreiche Sammelmeldungen, deren Einzelobjekte aufgrund der historischen Umstände weder quantifiziert noch qualifiziert werden können (etwa 3,5 Millionen). „Lost Art“ registriert jegliches Kulturgut, unabhängig von seinem materiellen Wert; Mobiliar wird hier ebenso aufgeführt wie Gemälde, Inkunabeln, Skulpturen, Bücher, Musikalien oder Kunsthandwerk. Ziel der Arbeit der Koordinierungsstelle ist es, über das Sammeln und Veröffentlichen von Such- und Fundmeldungen die Identifizierungen der Herkunft und der Eigentümer von Kunstwerken zu ermöglichen; sie hat nicht den Auftrag, eigenständige Provenienzrecherchen durchzuführen.

Provenienzforschung in Österreich

In Österreich wird Provenienzforschung insbesondere von der Österreichischen Nationalbibliothek, dem Kunsthistorischen Museum, dem Heeresgeschichtlichen Museum, der Gemäldegalerie und Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste Wien, der Albertina, der Österreichischen Galerie Belvedere, dem Hofmobiliendepot, dem Museum für angewandte Kunst, dem Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig, dem Theatermuseum, dem Technischen Museum und dem Weltmuseum (alle Wien) betrieben.[9] Grundlage bildet das Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen vom 4. Dezember 1998 (BGBl. I, 181/1998). Vom zuständigen Bundesministerium für Unterricht, Kunst und Kultur wurde die Kommission für Provenienzforschung eingerichtet, deren wissenschaftliches Personal in zahlreichen Bundesmuseen und Sammlungen die Inventare, die Archivbestände und die Objekte auf Provenienzhinweise überprüfen. Die Universitätsbibliothek der Universität Wien betreibt seit 2004 ein Forschungsprojekt Provenienzforschung.[10] 2008 wurde von einigen Bibliotheken die Arbeitsgruppe NS-Provenienzforschung gegründet, die die Bestände aus der Zeit von 1938 bis 1945 überprüft. In der Arbeitsgruppe vertreten sind, u. a. die Universitätsbibliothek der Medizinischen Universität Wien, die Wienbibliothek im Rathaus, die Universitäts- und Landesbibliothek Tirol, die Universitätsbibliothek Salzburg, die Universitätsbibliothek Graz und das Jüdische Museum Wien.[11]

Provenienzforschung im Kunsthandel

Im Kunsthandel spielte die Herkunft eines Kunstwerks von jeher eine große Rolle, da damit die Originalität zurückzuverfolgen war, aber auch eine Wertsteigerung des Objekts mit einherging. Die privatrechtlichen Verkäufer sind von der Washingtoner Erklärung nicht direkt betroffen – dennoch zeitigt die Debatte um Raubkunst mittlerweile Auswirkungen, so dass auch der internationale Kunsthandel in den letzten Jahren verstärkt Provenienzforschung betreibt.

Immer wieder gelangen Gemälde in Auktionen, die als NS-Raubkunst identifiziert werden. Bis in die 1990er Jahre kam es diesbezüglich nur selten zu Rechtsstreitigkeiten, doch seit der Verbreitung von Informationen, Katalogen und Auktionsankündigungen im Internet werden diese Werke erkannt, sodass es des Öfteren zu Rückgabeverlangen kam. Das Gleiche gilt für gestohlene Kunstwerke. Große Auktionshäuser wie Sotheby’s und Christie’s unterhalten seit einigen Jahren eigene Abteilungen der Provenienzforschung.

Das Art-Loss-Register,[12] nicht zu verwechseln mit der Lost Art-Datenbank in Magdeburg, ist die weltweit größte, privatwirtschaftlich geführte Datenbank. Sie beinhaltet verloren gegangene und gestohlene Kulturgüter ab einem bestimmten Mindestwert; im Jahr 2005 dokumentierte sie über 180.000 Kunstwerke. Der Kunsthandel kann hier gebührenpflichtig seine Angebote prüfen lassen, auch Unternehmen und Privatpersonen können gegen eine Gebühr gestohlene Kunstwerke registrieren oder prüfen lassen, ob es sich bei einzelnen Werken um Diebesgut handelt. Die Polizei erhält einen kostenlosen Zugriff auf diese Datenbank. Für die Öffentlichkeit ist das Art Loss Register nicht frei zugänglich, damit Diebe nicht überblicken können, ob das Diebesgut dort aufgelistet ist.

Provenienzforschung an menschlichen Überresten

In den letzten Jahren werden verstärkt Provenienzforschungen an menschlichen Überresten in naturwissenschaftlichen Sammlungen und ethnologischen Museen betrieben. Dies betrifft besonders menschliche Schädel und Knochen aus außereuropäischen Ländern, welche zum überwiegenden Teil in der Kolonialzeit erworben wurden. Insbesondere interdisziplinär ausgerichtete Forschungsprojekte gehen vermehrt der Frage der kulturellen Herkunft dieser Sammlungsstücke nach und forschen nach den Umständen ihrer Erwerbung und Verbringung in europäische und amerikanische Sammlungen. Hier spielt sowohl die Feststellung möglicher Unrechtskontexte als auch die Möglichkeit von Restitutionen an die jeweilige Herkunftskultur eine Rolle.[13][14]

Literatur

  • Beiträge öffentlicher Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland zum Umgang mit Kulturgütern aus ehemaligem jüdischen Besitz. (= Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste 1), bearbeitet von Ulf Häder, Magdeburg 2001, ISBN 3-00-008868-7.
  • Die eigene GESCHICHTE. Provenienzforschung an deutschen Kunstmuseen im internationalen Vergleich. Tagung vom 20. bis 22. Februar 2002 in Hamburg, herausgegeben von der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste Magdeburg (= Veröffentlichungen der Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste 2), bearbeitet von Ulf Häder unter Mitwirkung von Katja Terlau und Ute Haug, Magdeburg 2002, ISBN 3-00-010235-3.
  • Kulturgutverluste, Provenienzforschung und Restitution. Umgang mit belastetem Sammlungsgut in Museen, Bibliotheken und Archiven (Museumsbausteine, 10). Herausgegeben von der Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern, Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2007, ISBN 978-3-422-06575-8.
  • Silke Reuther: Die Kunstsammlung Philipp F. Reemtsma. Herkunft und Geschichte. Gebrüder Mann Verlag, Berlin 2006.
  • Vitalizing Memory. International Perspectives on Provenance Research. Herausgegeben von American Association of Museums, Washington 2005, ISBN 1-933253-02-9.
  • Sophie Lillie: Was einmal war. Handbuch der enteigneten Kunstsammlungen Wiens. Czernin Verlag, Wien 2003, ISBN 3-7076-0049-1.
  • Ilse von zur Mühlen: Die Kunstsammlung Hermann Görings. Ein Provenienzbericht der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen. München 2004, 292 Seiten, ISBN 978-3-8321-7498-9.
  • Alexandra Reininghaus (Hg.): Recollecting – Raub und Restitution. [Publikation erscheint anlässlich der gleichnamigen Ausstellung im Museum für angewandte Kunst, MAK Wien, 3. Dezember 2008 – 15. Februar 2009]. Passagen-Verl., Wien 2009. ISBN 978-3-85165-887-3.
  • Nils Seethaler: Das Charité Human Remains Project – interdisziplinäre Forschungen und Restitution menschlicher Überreste. In: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Band 33, 2012, S. 103–108.

Weblinks

Einzelnachweise

  1. Pearson, David: Provenance research in book history : a handbook - London : British Library, 1994.
  2. Constantin Goschler: Zwei Wellen der Restitution. Die Rückgabe jüdischen Eigentums nach 1945 und 1990. In: Inka Bertz, Michael Dorrmann (Hrsg.): Raubkunst und Restitution. Kulturgut aus jüdischem Besitz von 1933 bis heute. Frankfurt a. M. 2008, S. 30.
  3. Schlussbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“. Deutscher Bundestag, Drucksache 16/7000 vom 11. Dezember 2007, S. 122 (PDF).
  4. Arbeitsstelle für Provenienzrecherche/-forschung. Ehemalige Homepage der Arbeitsstelle (Memento vom 10. Februar 2013 im Webarchiv archive.today).
  5. Bundesweit erste Stiftungslehrstühle für Provenienzforschung. Universität Bonn, 16. Dezember 2015.
  6. Johannes Seiler: NS-Raubkunst, Kulturgutschutz und Koloniales Erbe. Drei neue Professuren bilden neuen Schwerpunkt In: forsch (Bonner Universitäts-Magazin), Nr. 2/2018, S. 26–27.
  7. Universität Hamburg Newsletter September 2016, Nr. 88 Forschung: Ehepaar Liebelt stiftet Professur für kunstgeschichtliche Provenienzforschung, abgerufen am 9. Januar 2018
  8. Lost Art: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste in Magdeburg
  9. Sammlungen des Bundes. Kommission für Provenienzforschung Österreich, abgerufen am 21. Juli 2017.
  10. NS-Provenienzforschung. Universitätsbibliothek, Universität Wien, abgerufen am 18. Februar 2011.
  11. AG NS-Provenienzforschung. Vereinigung Österreichischer Bibliothekarinnen und Bibliothekare, abgerufen am 21. Februar 2011.
  12. The Art Loss Register. London (englisch).
  13. Nils Seethaler: Das Charité Human Remains Project – interdisziplinäre Forschungen und Restitution menschlicher Überreste. In: Mitteilungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Band 33, 2012, S. 103–108.
  14. Rückgabe von Kolonialzeit-Schädeln endet im Streit auf spiegel.de, abgerufen am 15. Mai 2018