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Südostanatolien-Projekt

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Karte der Türkei

Das Südostanatolien-Projekt (SAP, türk. Güneydoğu Anadolu Projesi (GAP)) ist das größte regionale Entwicklungsprojekt der Türkei. Es umfasst insgesamt 22 Staudämme, 19 Wasserkraftwerke und Bewässerungsanlagen entlang der beiden Flüsse Euphrat und Tigris. Nach Abschluss des Projekts wird die Türkei damit 28% ihres gesamten Wasserpotentials kontrollieren. Bis zum Jahr 2010 sollen alle Arbeiten an dem Projekt abgeschlossen sein.

Komponenten des SAP

Das SAP wurde in den 1980er in Angriff genommen und soll das Wasser des Euphrat und Tigris zur wirtschaftlichen Nutzung erschließen. Insgesamt sollen 22 Staudämme und 19 Wasserkraftwerke gebaut werden.

Atatürk-Staudamm
Atatürk-Staudamm

Atatürk-Staudamm

Der Atatürk-Staudamm war der erste und ist der größte der 22 Staudämme, er staut das Wasser des Euphrats. Sein aufgestautes Wasser soll über die zwei Şanlıurfa-Tunnel auf landwirtschaftliche Nutzflächen zur Bewässerung geleitet werden. Der Atatürk-Stausee hat damit die Fläche des Bodensees. Der Staudamm ist der drittgrößte der Welt und der größte Europas. Fast ein Zehntel der Energie des Landes wird hier erzeugt.

Der Atatürk-Staudamm wurde zu einem ökologischen und ökonomischen Desaster, das jedoch weitgehend in der westlichen Öffentlichkeit unbekannt blieb. Fünfzehn Jahre nach seiner Eröffnung im Jahre 1983 drohte er zu verschlammen. Das Erdreich der umliegenden Berge erodierte immer mehr und rutschte in den Stausee. Nach Alarmrufen von Wissenschaftlern und der Presse beschloss die türkische Regierung 1998 eine Wiederaufforstung der Hänge rund um den Atatürk-Stausee. Eine Fläche von der Größe des Saarlandes sollte begrünt werden. Bei der größten ökologischen Rettungsaktion in der Geschichte der Türkei bepflanzten Tausende von freiwilligen Studenten das See-Ufer mit Bäumchen.

Der Euphrat-Staustufe Birecik liegt bei Birecik unterhalb des Atatürk-Staudamms. Sie dient neben der Stromerzeugung auch der landwirtschaftlichen Bewässerung. Es besteht aus einem 2,5 km langen Staudamm. Die Turbinen erzeugen pro Jahr eine Stromleistung von 2,5 Milliarden Kilowattstunden.

Weitere Staudämme

Der Ilisu-Staudamm soll den Tigris stauen und wird in der Nähe zur irakischen Grenze gebaut. Der Damm wird 135 Meter hoch und 1820 Meter lang sein und ein Gebiet von 313 Quadratkilometer überfluten.

Die Şanlıurfa-Tunnel sind mit je 26,2 km Länge und 7,62 m Innendurchmesser die längsten Bewässerungstunnel der Welt. Allein diese beiden Tunnel entziehen dem Euphrat eine Wassermenge von 328 m³/s. Durch den Euphrat strömt ein Wasservolumen von ca. 700 m³/s. Die Flüsse Euphrat und Tigris führen jährlich 50 Mrd. m³ Wasser.

Staudammkarte

Wasserturbinen zur Energiegewinnung

Neben der Bewässerung landwirtschaftlicher Flächen und der Stromgewinnung umfasst das SAP auch den Bau landwirtschaftlicher und städtischer Infrastruktur, Forstwirtschaft, Bildung und den Gesundheitsbereich. Nach den staatlichen Planungen soll das Projekt 2010 fertiggestellt werden und 32 Milliarden Dollar kosten. Seit Beginn des Projektes wurden bis 2000 14 Mrd. Dollar in das SAP investiert.

Das Projekt umfasst neun Provinzen, die auf der Fläche im historischen Ober-Mesopotamien zwischen den beiden Flüssen Euphrat und Tigris liegen:

Ziele des SAP

Mit der Fertigstellung des Projektes sind mehrere Ziele verbunden, allem voran die wirtschaftliche und soziale Entwicklung des lange Zeit vernachlässigten Südostens der Türkei. In diesem Gebiet lebt größtenteils die kurdische Minderheit. Durch die wirtschaftliche Entwicklung erhofft sich die Regierung auch eine Entschärfung der sozialen Lage der Kurden und damit auch einen Beitrag zur Lösung der kurdischen Frage. Zudem soll durch das Entwicklungsprogramm die Binnen-Migration und Landflucht von Ost nach West verringert werden.

Datei:The short cut to india (1909). Harran ovasi farmland-2.png
Bewässerung in der Harran-Ebene (1908)

Ziele:

  • Entwicklung des unterentwickelten Osten der Türkei und Erhöhung des Lebensstandards und Einkommensniveaus der Bevölkerung
  • Schaffung neuer Arbeitsplätze in allen Bereichen (Dienstleistung, Industrie und Landwirtschaft)
  • Energiegewinnung und Verringerung der Abhängigkeit vom Öl
  • zusätzliche staatliche Einnahmen durch den Wasserhandel mit den Nachbarländern und dem ganzen Nahen Osten (z.B. Israel)
  • Bewässerung der Steppe und Erschließung zur landwirtschaftlicher Nutzflächen
  • Diversifizierung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse
Bewässerung heute in der Region
  • Erhöhung des Exports aus der Region durch eine exportorientierte Agrarproduktion
  • Ansiedlung von Industrien: In der ersten Stufe ist eine Ansiedlung der Lebensmittelverarbeitung geplant, danach sollen weitere Industriezweige wie Möbelherstellung, Textil und Chemie folgen.
  • Förderung des Tourismus: Erschließung vieler historischer und archäologischer Stätten durch den Ausbau der Infrastruktur (Straßen, Hotels usw.).
  • Gesellschaftliche Umwandlung: Frauenprojekte, Ausbildung, Erziehungstätigkeiten und Gesundheitsleistungen

Landwirtschaft

Baumwoll-Anbaugebiete in der Türkei

Mit Hilfe von riesigen Bewässerungsanlagen soll eine Fläche von 1,7 Millionen Hektar zwischen den beiden Flüssen bewässert und so zur landwirtschaftlichen Nutzung erschlossen werden. Diese Fläche ist damit größer als die Gesamtfläche der Benelux-Länder und entspricht mit ca. 75.358 km² neun Prozent der gesamten Fläche der Türkei. Mit dem Fertigstellen des SAP wird sich die bewässerte Fläche der Türkei schätzungsweise verdoppeln.

Allein bei der Produktion von Baumwolle erwartet man eine Erhöhung von derzeit 150.000 Tonnen auf 400.000 Tonnen. Damit wird die Region zu einem der vier wichtigsten Anbauflächen für Baumwolle. Baumwolle ist für die Türkei insofern wichtig, da dessen Nachfrage nach dem Rohstoff größer ist als die Kapazität zur Deckung des eigenen Bedarfs. Bereits jetzt zählt die Türkei neben China und anderen Ländern zu den Haupttextil-Produzenten der Welt.

Neben Baumwollfeldern entstehen allerdings auch Pistazien- und Mandelbaumplantagen, Erdbeer-, Sojabohnen- und Weizenfelder und Truthahnfarmen.

Die Erträge von Baumwolle, Gerste und Weizen verdreifachten sich auf den bewässerten Flächen, v.a. in der Ebene um Harran. Wie aus den Erfahrungen mit anderen Staudammbauten bekannt wurde, steigen nach der Inbetriebnahme mit dem Grundwasserspiegel auch die Bodensalze nach oben und machen die Böden unfruchtbar. Auch die Harran-Ebene war einst eine der größten Kornkammern der Türkei, doch schon heute sind mehr als 20 % des Bewässerungsgebietes zu versalzen, um noch als Anbaugebiet von Nutzen sein zu können.

Bewässerungskanal in Harran

Fischerei

Zur Zeit wird über die Errichtung von Fischzuchtfarmen auf den neu entstandenen Seen nachgedacht. Auf den Stauseen um den Atatürk-Staudamm zeichnet sich derzeit bereits eine derartige Entwicklung ab.

Elektrizität

Die bereits bestehenden 17 Wasserkraftwerke versorgen die Türkei mit 8,9 Milliarden Kilowattstunden Energie. Der Verbund dieser 17 Wasserkraftwerke gehört zu den größten in der Welt. Nach der Fertigstellung soll die Region jährlich eine Energiemenge von 27 Mrd. kw/h produzieren.

Aktueller Stand

Projektstand Juni 2000
Fertig im Bau Geplant Summe
Energie Kapazität (MW) 4,490 898 1,947 7,335
Energie Produktion (GWh/Jahr) 16,704 3,286 7,119 27,109
Bewässerte Fläche (ha) 212,197 159,147 1,428,656 1,800,000
Zahl der Staudämme 12 2 8 22
Zahl der Wasserkraftwerke 6 2 10 18

Nach Einschätzungen von Experten ist das Ziel, das SAP bis zum Jahr 2010 fertigzustellen, wahrscheinlich nicht zu erreichen. Die Fertigstellung mancher Dämme ist überfällig, wie z.B. die in der Nähe von Hatay. Die Ursachen für die Verzögerung sind vielfältig. Hierzu gehören ökonomische Krisen, diplomatische Probleme und der Kampf gegen die PKK während der langen Projektzeit.

Eine Reihe von wirtschaftlichen Rückschlägen führte immer wieder dazu, dass die Regierungen den Geldhahn für das Projekt zudrehten oder zumindest verringerten.

Zudem mussten rechtlich immer wieder Sachverhalte geklärt werden. Dies betraf vor allem Enteignungen und Überflutung von historischen Orten.

In den frühen 90er kam das Projekt in der Hochzeit der PKK-Aktivitäten fast vollständig zum Erliegen und erlitt darüber hinaus auch Rückschläge. Die PKK-Kämpfer verübten damals auch Anschläge auf die Infrastruktur des SAP und töteten auch Ingenieure und Arbeiter, die am Projekt arbeiteten.

Auswirkungen und Probleme auf nationaler Ebene

Sozial

Bis jetzt sind kaum Arbeitsplätze für Ansässige geschaffen worden. Die „guten“ Stellen gehen zumeist an gut ausgebildete Arbeiter aus dem Westen der Türkei. Zudem profitieren von den neuen landwirtschaftlich erschlossenen Gebieten vor allem die alten Großgrundbesitzer (Agas).

Ein weiteres Problem ist die Umsiedlung von Dörfern und deren Bewohnern aus Gebieten, die durch die Stauung der Flüsse überschwemmt werden. Von den Umsiedlungen sind über 4000 Dörfer und mehr als 5000 Siedlungen betroffen. Allein der Atatürk-, Karakaya- und Bireçik-Damm haben zu Umsiedlungen von ca. 90.000 Bewohnern geführt. Viele Betroffene bekommen nur unzureichende Entschädigungen für ihre verlassenen Ländereien und Besitztümer. Daher ist die Mehrzahl der entschädigten Personen mit ihren neuen Siedlungen unzufrieden, oder aber ihr Einkommen liegt unterhalb des Niveaus, das sie früher erwirtschaftet haben.

70% der bebaubaren SAP-Fläche ist Staatseigentum, 25% verteilen sich auf die Großgrundbesitzer und lediglich 5% auf die Vielzahl der Kleinbauern. Um optimale landwirtschaftliche Erträge erzielen zu können, müssen große Flächen mit Maschinen, Dünger und Pestiziden bearbeitet werden. Der Großteil der Kleinbauern kann höchstwahrscheinlich nicht die finanziellen Mittel für diese Investitionen aufbringen. Daher werden auch kaum Kleinbauern von diesem Projekt profitieren, sondern nur die alten Großgrundbesitzer. Es ist deshalb zu bezweifeln, ob die angestrebte Verbesserung des Lebensstandards und Erhöhung der Einkommen die Subsistenzfähigkeit der Bauern erreichen wird.

Ökologisch und kulturell

Auswirkungen und Probleme auf regionaler Ebene: Wasser als Konfliktstoff

Probleme mit den Anrainerstaaten

Das Projekt wird von den Regierungen der Nachbarstaaten Syrien und Irak mit Argwohn und Sorge beobachtet. Die Staudämme und Bewässerungsanlagen reichen bis an ihre Grenzen heran. Führende Politiker beider Länder befürchten, dass die Türkei eines Tages das Wasser als politisches Machtinstrument einsetzen könnte. Die Türkei ist aufgrund der großen Speicherkapazitäten der Staudämme in der Lage, jederzeit den beiden Nachbarn einfach das Wasser "abzudrehen". Die Befürchtungen werden durch entsprechende Äußerungen türkischer Politiker nicht gerade besänftigt: Der ehemalige Ministerpräsident und spätere Staatspräsident Turgut Özal wird zitiert mit den Worten: „Die anderen Staaten der Region haben Öl, wir haben Wasser“. Das Misstrauen der Nachbarn steigt auch deshalb, weil die Türkei eng mit den USA und Israel verbündet ist.

Durch den Einsatz von Pestiziden und anderer Mittel gelangt zunehmend chemisch belastetes Wasser zu den syrischen Bauern, welche zunehmend Ernteverluste beklagen. Zudem haben sowohl Syrien als auch der Irak eine stark wachsende Bevölkerung, die zu einem großen Teil aus Kleinbauern bestehen. Daher ist anzunehmen, dass ihr Wasserbedarf zukünftig steigen wird und die sozialen Spannungen zunehmen.

Auch aufgrund dieser Probleme gehört der SAP-Komplex zu den am stärksten bewachten und geschützten Objekten seiner Art. Unter anderem sind Flugabwehrraketen zum Schutz der Staudämme in der Region stationiert.

Internationale Abkommen und das Völkerrecht

Gegenwärtig fließt über die Grenze eine Wassermenge von ca. 700 m³/s. In bilateralen Verhandlungen von 1984 und 1987 hat die Türkei Syrien und Irak eine Wassermenge von 500 m³/s zugesichert. Syrien und Irak Teilen sich das Wasser im Verhältnis von 58 zu 42.

Syrien ist in einer denkbar schlechteren Position gegenüber der Türkei als Irak. Aufgrund seiner Ölvorkommen hat Irak eine bessere Verhandlungsposition als Syrien, das über kein Öl verfügt. In rechtlicher Hinsicht sind die Verhandlungen ohnehin festgefahren. Die Staaten verschanzen sich hinter gegensätzlichen Positionen, die sich aus unterschiedlichen völkerrechtlichen Auffassungen speisen. Syrien und Irak versuchen das Rechtskonzept der "geteilten Ressource" geltend zu machen, was ihnen 2/3 des Wassers zusprechen würde. Die Türkei favorisiert das Konzept der "equitable and reasonable utilization", wie es von der UN-Völkerrechtskommission in ihren "Draft Articles on the Law of Non-navigational Uses of International Watercourses" zugrunde gelegt wurde.

Zitat

  • „Staudämme sind ein typisches Phänomen für Länder der Dritten Welt. Dabei bedeuten gigantische Staudammprojekte zur Gewinnung von Wasserkraft nichts anderes als ökologischer Selbstmord. Bei kleineren Dämmen ist es nicht anders: Sie bringen vorübergehend Reichtum, sind aber langfristig gesehen für die Landwirtschaft eine Katastrophe. Das größte Problem der Türkei ist, dass man bei der Wahl der Standorte für die Staudämme nicht nach wissenschaftlichen Kriterien handelt. Das ist sehr traurig. Die langfristigen Interessen werden dem kurzfristigen Profit geopfert.“ Prof. Ismail Duman, Universität Istanbul (aus: „Schätze im nassen Grab.“ [1])

Literatur

  • Kienle, Silke (2003): Das Südostanatolien-Projekt (GAP) - ein erfolgsversprechendes Entwicklungsprogramm? Universität Eichstätt, Magisterarbeit, 68 Bl.
  • Thiede, Agis und Omeri, Amed (2001): Die Zerstörung Kurdistans. Das Südostanatolienprojekt (GAP), Hasankeyf und Vertreibung der Kurden. Hrsg. von der Kurdistan-AG FU Berlin. Allgemeiner Studentenausschuss der FU Berlin, 80 S., Ill.
  • Şahin, Mukaddes (1999): Politischer Grössenwahn oder sinnvolle Entwicklungspolitik? Das Südostanatolienprojekt (GAP) unter Nutzen-Kosten-Gesichtspunkten. Peter Lang: Frankfurt a.M., Dissertation, 302 S., 12 Abb. und zahlr. Tabellen ISBN 3-631-35038-4
  • Dietziker, Joerg (1998): Wasser als Waffe. Türkische Dämme und Schweizer Helfer. Das südostanatolische Projekt GAP. Bern: Erklärung von Bern, 62 S., Ill. ISBN 3-905550-20-2 (Inhaltsangabe)
  • Struck, Ernst (1994): Das Südostanatolien-Projekt. Die Bewässerung und ihre Folgen. In: Geographische Rundschau, 46 (2), 88 - 95. Ill., graph. Darst.
  • (1990): Das Südostanatolienprojekt (GAP). Hrsg. von der Republik der Türkei, Ministerpräsidium. Ankara: Amt für GAP-Gebietsentwicklung, 31 S. zahlr. Ill., Kt.

Weblinks