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Feindesliebe

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Als Feindesliebe bezeichnet man ein individuelles und soziales Verhalten, das eine Situation der Feindschaft durch bewusste Wohltaten für Feinde zu überwinden sucht. Dazu wird meist auf jede Gewalt gegenüber feindlicher Gewalt verzichtet.

Dieses Verhalten ist ursprünglich religiös begründet. Weil Jesus von Nazaret ein Gebot der Feindesliebe aussprach, wird es oft als christliche Besonderheit aufgefasst. Im heutigen interreligiösen Dialog wird jedoch erkannt, dass Gutestun und Gewaltverzicht gegenüber Feinden ungeachtet verschiedener Begründungen auch in anderen Religionen eine bedeutende Rolle spielt. Auch die neuzeitliche Ethik seit der Aufklärung wurde auf vielfältige Weise davon beeinflusst.

Judentum

Entgegen landläufiger Meinung ist das Konzept der Feindesliebe sehr wohl schon in den frühesten Quellen des Judentums verankert. Exodus (2. Buch Mose) 23, 4 hält fest: Wenn du dem verirrten Rind oder dem Esel deines Feindes begegnest, sollst du ihm das Tier zurückbringen. In den Pirkej Avot, d.h. "Sprüche der Väter", einem Traktat der Mischna und Hauptwerk der jüdischen Ethik, steht: Wenn dein Feind fällt, freue dich nicht, und wenn er strauchelt, so frohlocke dein Herz nicht. Der Ewige könnte es sehen und seinen Zorn von ihm (deinem Feind) abwenden. (Kap. 4, Vers 19)

Christentum

Jesus von Nazaret hat erstmals ausdrücklich Feindesliebe geboten. Im Neuen Testament heißt es in der Bergpredigt (Mt. 5, 43-45):

"Ihr habt gehört, dass gesagt wurde: 'Du sollst deinen Nächsten lieben, aber deinen Feind hassen.' Ich aber sage Euch: Liebet eure Feinde, segnet, die euch verfluchen, tut Gutes denen, die euch hassen, bittet für die, die euch beleidigen und verfolgen: So werdet Ihr Kinder eures Vaters im Himmel sein."

Somit ist Feindesliebe eine Ausweitung der Nächstenliebe, die aktuelle Feinde einbeziehen soll. Das Gebot entstammt also jüdischer Tradition und wird hier wie folgt begründet (Mt. 5, 45-48):

"Denn Er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und die Guten und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr also nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn habt ihr davon? Tun die Zöllner nicht dasselbe? Und wenn ihr nur zu euren Brüdern freundlich seid, was tut ihr damit Besonderes? Handeln die Andersgläubigen nicht genauso? Darum seid vollkommen, ebenso wie euer Vater im Himmel vollkommen ist."

Das weist auf Gottes Wesen hin: Der barmherzige Segen des Schöpfers galt von Anfang an allem Leben (Gen. 8, 22). Demgemäß wollte Jesus Juden und ihre Feinde - genannt werden Steuereintreiber und Fremdgläubige, damals die Römer - gemeinsam zu „Kindern Gottes“ machen und so Gottes Vollkommenheit abbilden. Demgemäß stellte er Nächstenliebe mit Gottesfurcht gleich (Mk. 12, 28-34).

Im gleichen Kontext verbot Jesus den Gedemütigten das Zurückschlagen (Mt. 5, 38-42 und Lk. 6, 27-38) und verlangte stattdessen, die Angreifer zu segnen, ihnen wohl zu tun, für sie zu beten (Mt) oder ihnen Kredit zu geben und auf Gerichtsverfahren, Gegengewalt und Rückforderung zu verzichten (Lk). Das lässt Israels damalige Lage erkennen: Sie war von „schlagen“, „berauben“ und „nötigen“ geprägt. Die „Feinde“ waren die Besatzer, Ausbeuter und Verfolger von Jesu Volk und Nachfolgern.

Das Gebot wird daher heute als Anleitung zu einem gewaltlosen „Entfeinden“ in einer Situation der Unterdrückung verstanden (Pinchas Lapide, Gerd Theißen). Als „Vorleistung“ zur Wahrung der eigenen Chancen war Gewaltverzicht im historischen Umfeld seit Daniels Apokalyptik plausibel (Flavius Josephus, Bellum Judaicum). Dietrich Bonhoeffer (Nachfolge) betonte jedoch, dass Jesus damit keine Veränderung des Feindes, sondern selbstlose Hingabe (Agape) an sein Heil forderte.

Matthäus begründete Jesu Gebot mit Israels und der Nachfolger Auftrag, „Licht der Welt“ zu sein (Mt. 5, 14) und formulierte es als "Antithese" zur jüdischen Tradition (Mt. 5, 43f). Heutige Exegese betont jedoch, dass der Kontrast nicht von Jesus stammt, da im Judentum kein Feindeshass geboten wird. Nur die Ordensregel von Qumran und antike Umwelt verlangten diesen. Aber Zeloten und Römer praktizierten gegenseitig Vergeltung im jüdischen Freiheitskampf. Deren selbstzerstörende Folgen wollte Jesu gewaltloses Segnen abwenden (Mt. 7, 1 und Lk. 6, 37):

„Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“

Lukas stellte Jesu Gebot in den Kontext der reziproken „Goldenen Regel“, die er vor allem auf den Besitzausgleich zwischen Arm und Reich innerhalb christlicher Gemeinden bezog (Lk. 6, 31.38):

„So wie ihr wollt, dass euch die Menschen behandeln, so tut ihnen auch!“

Paulus verstand Jesu Gebot als Verzicht auf Rache und Gegengewalt an römischen Verfolgern (Röm. 12, 21) im Sinne des AT (Spr. 25, 21). Später wurde es auf Bruderliebe reduziert (1. Jh. 4, 21), wobei „Brüder“ tendenziell alle Menschen einschloss.

Frühere Exegese betonte die Radikalisierung der jüdischen Tora: Jesus übertrieb tradiertes Recht, um Gottes wahren Willen bewusst zu machen. Es ging ihm immer um die Grundeinstellung zum Mitmenschen. Sein „Feind“-Begriff unterschied nicht zwischen persönlichem (griechisch „echtros“) und kollektivem Gegner („polemios“) oder ethnisch Fremdem. Darum fasste die großkirchliche Theologie Feindesliebe oft als unerreichbares Vollkommenheitsideal auf: für eine moralische Elite (Mönchtum, katholische Zwei-Stufen-Ethik) oder als Spiegel der menschlichen Sünde, die allen Menschen ihr Angewiesensein auf Gottes Gnade bewusst macht (Martin Luther).

Heutige Exegese betont dagegen, dass Jesu Gebote das Leben im Reich Gottes vorwegnehmen, aber nirgends Unerfüllbarkeit voraussetzen, sondern Erfüllung von allen Nachfolgern erwarten (Mt. 7, 21ff). Jesus lebte dies vor. Seine Tempelreinigung (Mk. 11, 15-17) wollte allen Völkern Zugang zu Gott eröffnen und griff damit die Feindschaft zwischen Israel und den Völkern an. Bei seiner Festnahme leistete er keine Gegenwehr und verbot sie seinen Jüngern (Lk. 22, 51). Im Verhör vor Kaiphas (Jh. 18, 23) und Pilatus (Mk. 15, 1-4) nahm er nur geltendes Recht in Anspruch. Er begehrte keine Rache, sondern bat Gott noch am Kreuz um Vergebung für seine Mörder (Lk. 23, 34) und solidarisierte sich mit allen Unrecht Leidenden (Mk. 15, 34/ Ps. 22, 2/Jes. 53).

Darum verkündete die urchristliche Theologie gerade Jesu Tod als Überwindung der Feindschaft zwischen Juden und Nichtjuden (Eph. 2, 13f) und verstand Feindesliebe als Zeugnis davon, das bis zum Martyrium gehen konnte.

In der Kirchengeschichte wurde Feindesliebe oft mit Sündenvergebung gleichgesetzt. Sie enthält diese, geht darin aber nicht auf. Sie wurde von Christen oft nicht nur unzureichend geübt, sondern - mit bekannten historischen Folgen - missachtet: ganz besonders gegenüber Jesu Volk, dem Judentum.

Islam

Im Islam ist der Begriff der Feindesliebe unbekannt. Koranverse, die zu Mäßigung und Nachsicht aufrufen, beziehen sich auf das Binnenverhältnis zwischen Muslimen, bzw. zu Andersgläubigen, die sich dem Islam unterworfen haben. Eine regelrecht pazifistische Grundhaltung findet sich äußerst selten, z.B. bei synkretistischen Gruppierungen des Sufismus, die aus der Liebe zu Gott und der Einheit des Schöpfers mit der Schöpfung eine allgemeine Liebe zu allen Geschöpfen ableiten. In der islamischen Welt sind solche Gruppen meist Verfolgungen ausgesetzt (vgl. z.B. die zwar pazifistische, aber nicht direkt dem Sufismus zuzuordnende Ahmadiyya).

Hinduismus

Die ältesten Veden (entstanden um 1500 v. Chr.) enthalten das Prinzip des Nichtverletzens (Ahimsa), das einen wesentlichen Aspekt des göttlichen Brahma abbildet. Es beinhaltet ein bewusstes, täglich geübtes Vermeiden jeder Form von tödlicher Gewalt.

Daraus leitete Mahatma Gandhi prinzipielle Gewaltfreiheit gegenüber Feinden ab (Satyagraha). In diesem Konzept verband er das aktive Festhalten der Wahrheit (Sanskrit: sat) mit dem bewussten Auf-sich-Nehmen von gewaltsam zugefügtem Leid bis hin zum Selbstopfer (tapasya). Im nationalen Unabhängigkeitskampf Indiens gewann dieses Konzept revolutionäre Kraft und führte zur Überwindung der langjährigen britischen Kolonialherrschaft.

Gandhis Gewaltfreiheit war zugleich ein aktives, geduldiges Vorgehen gegen kulturelle und nationale Fremdbestimmung. Das Festhalten der Wahrheit gegen die Gewalt des Feindes sollte nicht nur die Situation der Gewaltopfer, sondern auch die der Gewalttäter langfristig verändern. Er hatte dabei nicht nur das Wohl Indiens, sondern auch das der Kolonialherren und der englischen Arbeiter im Auge. Er glaubte, dass die Gewaltfreiheit auch für sie der einzig erfolgversprechende Weg zu wirklicher Gesellschaftsveränderung sein könne. Er wollte ihre Abhängigkeit von ausbeuterischen Beziehungen dauerhaft überwinden und alternative Beziehungen zu ihnen aufbauen. Insofern strebte auch Gandhi danach, den Feind zu entfeinden.

Gandhi fand sein Konzept in Jesu Bergpredigt bestätigt, nachdem er es in Südafrika schon erprobt hatte. Er grenzte es aber klar gegen westliche und christliche Deutungen einer passiven Leidensannahme ab. Sein eigener gewaltsamer Tod stellte die Kraft der Gewaltfreiheit gegen religiösen Fanatismus in Frage: Doch Gandhi war diese mögliche Konsequenz des Festhaltens der Wahrheit immer bewusst und er nahm sie an. Die aktive Interpretation des Gebots der Feindesliebe findet daher in Gandhi einen ihrer stärksten Fürsprecher.

Jainismus

Diese Lehre Mahaviras, die in Indien fast zeitgleich zum Wirken des Buddha entstand, verbietet ausdrücklich Gewalt gegen Menschen, Tiere und Pflanzen (Ahimsa). Die etwa 7 Millionen Jaina beachten das Tötungsverbot gegen Tiere als strenge Vegetarier. Sie lehnen das Kastensystem ab. Mord und Gewalttaten kommen bei ihnen selten vor.

Für die Mönche gelten strengere Regeln als für Laien: Sie leben nackt unter den Menschen und betteln um ihr essen. Sie haben nur eine Wasserflasche und einen Pinsel, mit dem sie den Weg vor sich von kleinen Lebewesen reinigen. Einige tragen zudem einen Mundschutz, um keine Fliegen zu verschlucken. Wenn ihre Zeit gekommen ist und die Mönche und Mönchinnen alt sind, fasten sie sich zu Tode.

Mahatma Gandhi studierte bei einem Jaina; sein Konzept der Satyagraha wurde von der Lehre Mahaviras beeinflusst. Der Ahimsa fehlt jedoch ein Merkmal der Feindesliebe: Die eigene Gewaltlosigkeit zielt hier nicht direkt darauf, der Gewalt des Feindes aktiv zu widerstehen und seinen Hass in Liebe umzuwandeln. Es geht hier eher um die asketische Distanz zu allem, was die Heiligkeit des Lebens beeinträchtigen könnte.

Buddhismus

In Buddhas Lehre (entstanden um 500 v. Chr.) ist das Überwinden von Feindschaft und Leid, das Entwickeln von Toleranz und Mitgefühl für alle Lebewesen zentral. So heißt es im Dhammapada aus dem Palikanon (Verspaar 3-5):

"Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so denkt, der wird die Feindschaft nicht besiegen. Er schmähte mich, er schlug mich, er besiegte mich mit Gewalt: Wer so nicht denkt, der wird Feindschaft besiegen. Denn Feindschaft kommt durch Feindschaft zustande; durch Freundschaft kommt sie zur Ruhe; dies ist ein ewiges Gesetz."

In Vers 223 heißt es als Summe aus dem Vorangegangenen:

"Besiege (erobere) Zorn durch Liebe. Besiege Böses durch Gutes. Besiege Anhaftendes (am Eigenen Festhaltendes) durch Geben. Besiege den Lügner durch die Wahrheit."

Feindschaft lässt sich also nur durch Liebe gerade zum Feind auflösen. Dazu muss man ihre wechselseitige Entstehung (paticca samuppada) durchschauen: Jeder Mensch verletzt sich selbst mit dem, was er anderen antut, und fördert sein Glück mit dem, was er ihnen Gutes tut ("Karma"). Für diesen Lernprozess ist der Feind nötig. So verhilft gerade er zu Selbsterkenntnis und Selbstlosigkeit. Damit übernimmt man Verantwortung für eigenes und fremdes Leid und projiziert immer weniger ungelöste Konflikte auf andere.

Darum lehrte der "Erwachte" Achtsamkeit, Barmherzigkeit, Geduld und leitet zum Loslassen von negativen Emotionen an, die Gewalt erzeugen. Seine Lehre ist auf den Geist des Einzelnen bezogen und hat das Erlöschen allen Anhaftens (Nirvana) zum Ziel. Feindesliebe trägt dazu bei und drückt wahre mitfühlende Natur aus. Diese erlaubt prinzipiell jedem fühlenden Wesen den Ausstieg aus dem Rad der ewigen Reinkarnation.

Das üben Buddhisten in Meditation und sozialem Engagement. Im heutigen Religionsdialog bieten sie ohne Missionsabsichten das gemeinsame Ein- und Ausüben von Feindesliebe an. Der heutige Dalai Lama z.B. - höchste Autorität des tibetischen Buddhismus - stellt die Übereinstimmung der Lehre Jesu mit der Buddhas heraus und will Christen helfen, ihren eigenen Glauben im Alltag zu leben.

Neuzeit

Die aufgeklärte Philosophie hat gegen die mittelalterliche Dominanz der kirchlichen Theologie versucht, die Grundlagen der Ethik im autonomen Subjekt zu verankern. Besonders Immanuel Kant hat dazu jüdisch-christliche in allgemeine humane Handlungsmaximen übersetzt. Sein "Kategorischer Imperativ" gibt der in allen Weltreligionen bekannten "Goldenen Regel" - behandle Andere so, wie Du behandelt werden willst - eine rationale Basis:

"Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde."

Alles hängt hier vom Primat des "guten Willens" im Einzelnen ab. Inwiefern nicht nur Nächstenliebe, sondern auch Feindesliebe eine allgemeine Handlungsmaxime werden kann, ist jedoch fraglich: Denn sie zielt nicht primär auf ein wechselseitiges, vernünftig einsehbares Verhalten, das auf der Einsicht in das gemeinsame Selbsterhaltungsinteresse beruht, sondern auf ein selbst-loses, einseitiges "Zuvorkommen", das das Wohl des Feindes im Blick hat und erst so eine neue Situation für beide schafft.

Friedrich Nietzsche hat sich scharf vom jüdisch-christlich geprägten idealistischen Moralismus abgegrenzt und stattdessen den "Willen zur Macht" postuliert. An die Stelle des Kultes des "Gekreuzigten" setzte er bewusst den Kult des "Übermenschen". Auch der Satanismus nach Anton Szandor LaVey stellt sein Glaubenssystem ausdrücklich gegen Juden- und Christentum. Er betrachtet Nächsten- und Feindesliebe als Negation des natürlichen Selbsterhaltungstriebes und propagiert - ähnlich wie der Sozialdarwinismus - Selbstbehauptung auch gegen Feinde.

Sigmund Freuds Psychoanalyse kritisierte Jesu Gebot als inhumane Überforderung und übersteigerten Altruismus. Ihm folgend, sah die US-amerikanische Theologin und Psychologin Rosemary Radford Ruether darin sogar eine Wurzel des christlichen Antijudaismus: Die Kirche habe, da sie mit Feindesliebe überfordert war, nicht einmal Nächstenliebe geübt, sondern sich an den Juden für ihr eigenes Versagen gerächt. Eine tiefe Schuldprojektion der christianisierten Völker sei für den Holocaust mitverantwortlich. Diese Thematik spielt im heutigen jüdisch-christlichen Dialog seit 1945 eine zentrale Rolle.

Andererseits zeigte in den USA Martin Luther King, dass Feindesliebe in einer Situation der Unterdrückung gerade keine Selbstaufgabe bedeutet, sondern als gewaltfreier Widerstand der Unterdrückten eine Unrechtssituation tatsächlich verändern kann. Als Baptist lernte King von Mahatma Gandhi, die Wahrheit in der Feindschaftssituation aktiv festzuhalten. Wie dieser verlor er dadurch sein Leben.

Universalistische Ethik-Entwürfe nach 1945 beziehen sich oft gerade auf diejenigen religiösen Wurzeln zurück, die nicht nur eine veränderte innere Einstellung, sondern auch ein neues politisches und soziales Verhalten anregen und lehren. Dahinter steht oft nach wie vor jüdische und christliche Tradition: etwa bei Albert Schweitzers "Ehrfurcht vor dem Leben" oder bei Emmanuel Levinas "Denken und Leben vom Anderen her".

Einen weiter gefassten Ansatz verfolgt das Projekt "Weltethos" von Hans Küng: Hier wird versucht, die Ethik aller Weltreligionen in wenige gemeinsame, einfache Grundregeln zu integrieren und diese zeitgemäß für eine zukünftige menschengerechte, ökologische und soziale Weltordnung zu entfalten.

Das Spezifische der Feindesliebe, nämlich der Angriff auf die Gewaltursachen und die Überwindung von Feindschaft, wird jedoch häufig gerade in nichtreligiösen Theorien aufgegriffen. So hat z.B. der norwegische Friedensforscher Johan Galtung neue politische Konfliktlösungsstrategien entworfen. Ausgehend von europäischen Erfahrungen wie dem Kapp-Lüttwitz-Putsch oder dem Prager Frühling, hat der deutsche Historiker Theodor Ebert eine Theorie der "sozialen Verteidigung" entwickelt. In den USA schlägt der Soziologe Jonathan Schell heute eine Alternative zum "Antiterrorkrieg" der Gegenwart vor, die sich ausdrücklich auf die Bergpredigt, Gandhi und King beruft.

Aktuelle Bedeutung und Kritik

Die intensive Auseinandersetzung der Neuzeit mit jüdisch-christlicher - weniger mit islamischer und fernöstlicher - Tradition hat auf die Theologie der Gegenwart zurückgewirkt. Besonders deutschsprachige Theologen (siehe Literatur) greifen Kritik an inhumanen Folgen missverstandener Feindesliebe auf und betonen stärker als früher:

Jesu Gebot verlangt keine unnatürliche Sympathie zu Unrechtstätern, keine bloßes Nachgeben des "Klügeren", keine heroische Selbstaufgabe, sondern eine gezielte Überwindung von Feindschaft. Feindesliebe meint kein Dulden von Unrecht und Verleugnen der eigenen Aggressionen, sondern den aktiven Abbau von Hass, Feindbildern und Gewaltursachen. Sie gibt dem Heil der Feinde Vorrang und will so auch die Bedrohten schützen. Das konnte und kann in einer Verfolgungssituation aber auch zum Selbstopfer führen.

Nach menschlicher Erfahrung kann Liebe Feindschaft nur sehr selten besiegen: Feindesliebe bleibt daher auf genuin theologische Begründung angewiesen. Jesu Selbsthingabe will Gottes Feindesliebe für alle Menschen bezeugen: Für ihn kann dieses Vertrauen allein Hass, Gewaltherrschaft und unnötiges selbstverursachtes Leid überwinden. Seine Nachfolger sollten ihre Chancen wahren, eine rechtlose Lage zu verändern, indem sie strikt auf Gegengewalt verzichten. Jesus war dabei nicht passiv, sondern ging aktiv voran (lateinaggredi“). Er ließ sich die Wahl der Mittel nicht vom Gegner aufzwingen, weil Vergelten mit Gleichem unter Ungleichen nur zum Untergang führt. Er gab dagegen das Ziel eines gerechten Zusammenlebens nicht auf, sondern bewahrte es noch in seinem Leiden und Sterben. So lebte er vor, die üblichen Reaktionsmuster zu brechen, aus dem Teufelskreis der Gewalt auszusteigen und souverän auf Feinde zuzugehen, um Feindschaft abzubauen.

Dieses Konzept ermöglicht Opfern, ihre Ohnmacht zu überwinden, und Tätern, ihre Opfer als Menschen zu sehen. Es kann beider Menschlichkeit wiederherstellen. Es sucht Konflikte beharrlich mit dem Feind zu lösen. Es enthält Kampf, Leiden und Rückschläge, hat aber Aussicht, die Feindsituation langfristig zu überwinden. Es bringt Gegner auf einen gemeinsamen Weg, der zur Versöhnung führen kann.

Das wird oft gerade von Menschen, auch Atheisten, verstanden, die sich dem Pazifismus verbunden fühlen und ihre Ablehnung jedes, auch eines "gerechten" Krieges damit begründen. Es ist aber keineswegs nur für sie gültig und aktuell, sondern für alle Menschen, die Feindschaft erfahren. Es kann je nach Umständen verschieden befolgt werden, auf Dauer aber nur mit dem "Feind" gemeinsam.

Daher ergibt sich aus dem Gebot auch der Dialog verschiedener Glaubensrichtungen. Die ökumenische Bewegung sieht darin zunehmend eine Alternative zu gängigen politischen Gewaltlösungen. Um diese zu entwickeln, arbeiten Christen, Kirchen, Religionen heute mehr und mehr mit anderen Nichtregierungsorganisationen zusammen.

Siehe auch

Literatur

Quellen

Jüdische und christliche Ethik

Hinduistische, buddhistische und islamische Ethik

Philosophische Ethik

Moderne Friedenspolitik

  • Hans Küng (Hrsg.), Dieter Senghaas (Hrsg.), "Friedenspolitik. Ethische Grundlagen internationaler Beziehungen." Verlag Piper, München (2003)
  • Theodor Ebert: "Soziale Verteidigung I. Historische Erfahrungen und Grundsätze der Strategie." Waldkircher Verlag, Waldkirchen, Juli 1996, ISBN 3878850530
  • Johan Galtung, "Friede mit friedlichen Mitteln". Opladen, Leske und Budrich (1998)
  • Johan Galtung, "Neue Wege zum Frieden - Konflikte aus 45 Jahren: Diagnose, Prognose, Therapie". Minden, Bund für soziale Verteidigung (2003)
  • Jonathan Schell, "Die Politik des Friedens". Carl Hanser Verlag (2003)

Weblinks