Pythagoras in der Schmiede

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Pythagoras in der Schmiede ist eine antike Legende, in der beschrieben wird, wie Pythagoras von Samos in einer Schmiede den Wohlklang von zusammenklingenden Hämmern entdeckte, deren Gewichte in bestimmten ganzzahligen Verhältnissen standen. Diese Beobachtung habe die Grundlage für die musiktheoretische Beschreibung von Intervallen dargestellt. Davon ausgehend habe Pythagoras die Musiktheorie begründet. Pythagoras wurde in der Antike und im Mittelalter häufig als Erfinder der Musik bezeichnet.[1]

Die ursprünglichen antiken Quellen sind verloren gegangen. Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Erzählung mit Erweiterungen angereichert. Nach akustischer Analyse ergibt sich, dass die Angaben der Legende physikalisch falsch sind. Nach heutigem Forschungsstand ist die Legende frei erfunden.

Inhalt der Legende

Der Legende zufolge hat Pythagoras, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte, ein Hilfsmittel gesucht, mit dem akustische Wahrnehmungen mathematisch ausgedrückt werden können. Als er an einer Schmiede vorbeikam, wo fünf Handwerker mit Hämmern bei der Arbeit waren, bemerkte er, dass die einzelnen Schläge Töne unterschiedlicher Tonhöhe hervorrufen. Er ließ die Schmiede die Hämmer tauschen, um festzustellen, dass die Tonhöhen nicht von den Händen der Schmiede abhingen. Vielmehr konnte er die Tonhöhen den Gewichten der Hämmer zuordnen. Er stellte fest, dass ein Wohlklang entstand, wenn ein bestimmter Hammer nicht geschlagen wurde. Dieser eine dissonant klingende Hammer stand nicht in einem ganzzahligen Verhältnis zu den anderen Hämmern, die anderen aber in den Verhältnissen 6 zu 8 zu 9 und zu 12.

Pythagoras setzte die Experimente zu Hause fort. Er fand heraus, dass er seine Beobachtung auf Becher und Schalen mit verschiedenen Gewichtsverhältnissen und auf Saiten mit verschiedenen Längenverhältnissen übertragen konnte.

Weitere Überlieferungen

Mit der Erfindung des Monochords zur Untersuchung und Demonstration von Tonhöhen von Saitenpaaren mit verschiedenen ganzzahligen Längenverhältnissen soll Pythagoras schließlich die Grundlage der Musiktheorie gelegt haben.

Die beiden Pythagoreer Hippasos von Metapont und Archytas von Tarent haben weitere quantitative Untersuchungen zu musikalischen Intervallen durchgeführt, die einen Einfluss auf die Entwicklung der Musiktheorie hatten. Unabhängig von der Frage, inwieweit experimentelle und welche Untersuchungen zur Erlangung der Erkenntnisse beigetragen haben, handelt es sich bei der Formulierung dieser Zahlenverhältnisse um das erste konkret und quantitativ beschriebene Naturgesetz.[2]

Grundlage der Musiktheorie

Die ganzen Zahlen 6, 8, 9 und 12 entsprechen bezogen auf den tiefsten Ton (Zahl 12) den reinen Intervallen Quarte (Zahl 9), Quinte (Zahl 8) und Oktave (Zahl 6) nach oben:

Ganze Zahl Verhältnis zur
größten Zahl 12
Verhältnis,
gekürzt
Verhältniszahl Intervallbezeichnung
12 12:12 1:1 1,000 Prime
9 9:12 3:4 0,750 Quarte
8 8:12 2:3 0,667 Quinte
6 6:12 1:2 0,500 Oktave

In Notenschrift kann dies zum Beispiel mit der Tonfolge c' - f' - g' - c" ausgedrückt werden:

Die Tonfolge c' - f' - g' - c"

Wird diese Tonfolge nicht vom tiefsten, sondern vom höchsten Ton (Zahl 6) aus betrachtet, ergeben sich ebenfalls eine Quarte (Zahl 8), eine Quinte (Zahl 9) und eine Oktave (Zahl 12) – in diesem Fall allerdings nach unten:

Ganze Zahl Verhältnis zur
kleinsten Zahl 6
Verhältnis,
gekürzt
Verhältniszahl Intervallbezeichnung
6 6:6 1:1 1,000 Prime
8 8:6 4:3 1,333 Quarte
9 9:6 3:2 1,500 Quinte
12 12:6 2:1 2,000 Oktave

Die Quinte und die Oktave tauchen in Bezug auf den Grundton zwar auch bei Naturtonreihen auf, nicht jedoch die Quarte oder deren Oktavierungen. Dieser Quartton kommt demzufolge bei den schon in der Antike bekannten ventillosen Blechblasinstrumenten und bei Flageoletttönen von Saiteninstrumenten nicht vor, und seine Entdeckung stellte insofern eine Neuerung dar.

In der Musik spielen diese vier harmonischen Töne in der Pentatonik, besonders auf der ersten, vierten, fünften und achten Tonstufe von diatonischen Tonleitern (insbesondere bei Dur und Moll) und bei der Komposition von Kadenzen als Grundtöne von Tonika, Subdominante und Dominante eine herausragende Rolle. Diese Tonfolge tritt oft bei Schlusskadenzen mit den entsprechenden Akkorden auf:

Hörbeispiel/? Vollkadenz in C-Dur mit der Stufenfolge: Tonika (C-Dur) - Subdominante (F-Dur) - Dominante (G-Dur) - Tonika (C-Dur)

Diese Tonfolge taucht auch in vielen Kompositionen auf, wie zum Beispiel in der Passacaglia c-Moll von Johann Sebastian Bach. Das Thema besteht aus 15 Tönen, von denen insgesamt zehn Töne und insbesondere die letzten vier Töne aus diesen vier Pythagoreischen Tönen geschöpft wurden.

Bedeutung für die spätere Weiterentwicklung der Tonsysteme

Die weitere Untersuchung von Intervallen mit Tonhöhen mit ganzzahligen Verhältnissen führte schließlich von diatonischen Tonleitern mit sieben verschiedenen Tönen in Pythagoreischer Stimmung zu einer chromatischen Tonleiter mit zwölf verschiedenen Tönen, die zur Vermeidung der unangenehm klingenden, „heulenden“ Pythagoreischen Wolfsquinte zunächst in mitteltöniger und später in temperierter Stimmung gebraucht wurden. Beim Vergleich von sieben aufeinanderstehenden reinen Oktaven mit zwölf aufeinanderstehenden reinen Quinten kommt es zwischen dem jeweils ersten und letzten Ton nicht zu zwei identischen Intervallen, sondern zu einer Abweichung, dem sogenannten Pythagoreischen Komma.

In gleichstufiger Stimmung, in der nur Oktaven vollkommen rein klingen, stellt die zwölfstufige Tonskala die Grundlage für die Dodekaphonie dar. Diese gleichstufige Stimmung wird heute auch häufig zur Stimmung von Tasteninstrumenten, Idiophonen und Elektrophonen verwendet.

Rezeption

PythagorasPhilolaosNikomachos von GerasaBoëthiusGuido von ArezzoJohannes de GrocheioFranchinius GaffuriusGioseffo Zarlino
Zeitstrahl: Autoren von bedeutenden überlieferten Berichten der Legende von Pythagoras in der Schmiede (grün). Von den blau gekennzeichneten Philosophen sind keine entsprechenden Schriftquellen erhalten.

Antike

Nikomachos von Gerasa in einer mittelalterlichen Darstellung aus dem 11. Jahrhundert, Universitätsbibliothek Cambridge, Ms. Ii.3.12, fol. 61 v.[3]

Die älteste datierbare Überlieferung der Legende findet sich erst rund siebenhundert Jahre nach Pythagoras bei den Neupythagoreern, von denen Nikomachos von Gerasa die Geschichte in seinem „Harmonikon Encheiridion“ (deutsch: „Handbuch der Harmonielehre“) festgehalten hat. Er bezieht sich in seiner Schrift kurz auf den Musiktheoretiker Philolaos, den er für den Nachfolger von Pythagoras gehalten hat und der einige Jahrzehnte nach Pythagoras gelebt hat und diesen daher nicht mehr persönlich kannte.[4]

Der griechische Musiktheoretiker Gaudentios, dessen Lebensdaten nicht genau bekannt sind, berichtet im 2. oder 3. Jahrhundert in seiner „Harmonike Eisagoge“ (deutsch: „Einführung in die Harmonie“) ebenfalls über die Pythagoras-Legende.[5]

Der griechische Neuplatoniker Iamblichos von Chalkis beschäftigte sich um 300 in seinem Buch 9 mit der pythagoreischen Lehre der Musik; dieses Buch ist allerdings nicht erhalten, so dass nur vermutet werden kann, dass er die Legende von Pythagoras in der Schmiede dort festgehalten hat.

Schon im 4. vorchristlichen Jahrhundert wurde das Prinzip der ganzzahligen Verhältnisse im Zusammenhang mit Tonintervallen von dem griechischen Philosophen Aristoxenos in seinen „Elementa harmonica“ (deutsch: „Harmonische Elemente“) kritisiert, und Experimente mit Saiten und Flöten wurden als zu ungenau zurückgewiesen.

Der spätantike Philosoph Ambrosius Theodosius Macrobius erwähnt in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts die Legende in seinem Kommentar zu Marcus Tullius Ciceros Somnium Scipionis.[5]

Boëthius (links mit Ziffern arbeitend) im Wettstreit mit Pythagoras (rechts mit einem Abakus arbeitend). Darstellung von Gregor Reisch mit einer allegorischen, weiblichen Figur zwischen den beiden Gelehrten, die zwei Lehrbücher und den Schriftzug TYPUS ARITHMETICAE trägt, Margarita Philosophica, 1508

Über dreihundert Jahre nach Nikomachos griff Boëthius die Geschichte in seiner „De institutione musica“ (deutsch: „Von der musikalischen Unterweisung“) wieder auf und bezog sich dabei auf dessen Schriften. Boëthius verwendet in seinem Text im Zusammenhang mit den "Werkstätten" den lateinischen Begriff „faber“, der sowohl mit „Schmied“ als auch einfach nur mit „Handwerker“ oder mit „Arbeiter“ übersetzt werden kann. Unter anderem beschreibt er, dass zwei Hämmer mit einem Gewichtsverhältnis von 2:1 im Klang dem Abstand einer Oktave entsprachen. Von Ambossen ist bei Boëthius nicht die Rede. Ferner beschreibt er, wie Pythagoras später die Gleichheit der Tonhöhe erst bei mehreren Saiten mit der gleichen Zugspannung untersucht und dann bei gleicher Saitenlänge und -dicke mit doppeltem und halben Zuggewicht experimentiert habe. Dabei habe er dieselben Gesetzmäßigkeiten wie bei den Hämmern gefunden.[6]

Beim Übergang von der Spätantike zum Mittelalter wird zunehmend darauf Bezug genommen, dass Pythagoras seine Entdeckung weniger durch eigene Beobachtung und Überlegung, sondern mehr durch göttliche Eingebung gemacht hätte.[5]

Mittelalter

Auch Aurelian von Réomé in seiner „Musica disciplina“ (deutsch: „Musiklehre“, 9. Jahrhundert) und Regino von Prüm in seiner „De harmonica institutione“ (deutsch: „Von der harmonischen Unterweisung“, 10. Jahrhundert) erwähnen die Legende in ihren Schriften.[5]

Der Benediktinermönch Guido von Arezzo (links), der Bischof Theobald von Arezzo (rechts) um 1025 am Monochord unterweist. Darstellung aus dem 12. Jahrhundert, Codex Lat. 51 f°35v., Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung

Fünf Jahrhunderte nach Boëthius, um 1025, bezog sich Guido von Arezzo im letzten Kapitel seines Micrologus wiederum auf dessen „De institutione musica“. Guido leitet die Beschreibung mit dem Satz „Auch würde wohl niemals ein Mensch etwas Bestimmtes über diese Kunst (Anmerkung: gemeint ist die Musik) erforscht haben, wenn nicht schließlich die göttliche Güte auf ihren Wink das nachfolgende Ereignis herbeigeführt hätte.“ ein. Er erwähnt, dass die von Pythagoras beobachteten Hämmer auf einem Amboss geschmiedet hätten, und: „wunderbarerweise wog nach Gottes Fügung der erste 12, der zweite 9, der dritte 8, der vierte 6 Einheiten irgendwelchen Gewichtes.[7]

Die von Guido berichteten Sachverhalte decken sich auch sonst weitgehend mit denen von Boëthius. Auch Guido erwähnt das Monochord, schreibt aber außer über die Tonhöhenverhältnisse bei verschiedenen Saitenlängen nichts über dessen sonstige physikalischen Eigenschaften.

Guido endet seinen Micrologus mit den Worten: „Auch Boetius, der Erweiterer dieser Kunst, hat die vielfache, wunderbare und äußerst genaue Übereinstimmung dieser Kunst mit den Verhältnissen der Zahlen nachgewiesen. Kurzum! Mit den oben genannten Zahlenverhältnissen hat zuerst Pythagoras das Monochord konstruiert, an welchem ... alle Gelehrte im Gewöhnlichen ihr Gefallen fanden ... unter der Leitung dessen, der stets das Dunkel der menschlichen Erkenntnis erleuchtet, dessen höchste Weisheit währet in Ewigkeit. Amen.[7]

Auch Johannes de Grocheio, der als erster den Begriff „Kirchenmusik“ verwendete, bezieht sich im 13. Jahrhundert auf Boëthius und setzt sich sehr kritisch und zweifelnd mit der auf Pythagoras zurückgeführten Hypothese auseinander, nach der die Konsonanzen von verschiedenen Tönen durch ganzzahlige Verhältnisse beschrieben werden könnten, konnte aber auch keine schlüssige, naturwissenschaftlich fundierte Alternative aufzeigen.[8]

Neuzeit

Aus: Franchinus Gaffurius: „Theorica musicae“, 1492: Der erste Musiker und Flötist Jubal, dessen Bruder Tubal-Kain als Stammvater aller Schmiede gilt, mit sechs Schmieden um ein Amboss (links oben), und Pythagoras beim Experimentieren mit jeweils sechs Glocken und Gläsern (rechts oben), mit sechs Saiten (links unten) und zusammen mit Philolaos mit sechs Flöten (rechts unten).

Gioseffo Zarlino erwähnt die Legende im 16. Jahrhundert in seiner „Le istitutioni harmoniche“ (deutsch: „Die harmonische Unterweisung“), wobei er einen Zusatz hinzugefügt hatte, der besagt, dass Pythagoras später seine Erfahrung mit den verschieden schweren Hämmern auf die gespannte Saite eines Monochords übertragen und beobachtet haben soll, dass die Tonhöhen der Saiten im selben Verhältnis wie die Gewichte standen, mit denen sie gespannt wurden.

Dieser falsche Sachverhalt wurde auch schon Ende des 15. Jahrhunderts von Franchinus Gaffurius in seiner „Theorica musicae“ (deutsch: „Musiktheorie“) veröffentlicht (siehe Bilder im Kasten rechts), auf die sich Zarlino vermutlich bezogen hat.[9] Gaffurius hatte sich wiederum zurück auf Boëthius berufen[10], der sich allerdings nicht zur Abhängigkeit der Tonhöhe von der Saitenspannung geäußert hatte. Ferner wird in den vier bildlichen Darstellungen des Gaffurius jeweils auf Musikinstrumente oder Klangerzeuger mit sechs harmonischen Tönen Bezug genommen. In jeder Darstellung sind diese mit den sechs Zahlen 4, 6, 8, 9, 12 und 16 beschriftet, die deren Frequenzverhältnisse angeben. Den vier Verhältniszahlen 6, 8, 9 und 12, die noch bei Guido erwähnt werden, wurden also noch die 4 und die 16 hinzugefügt, die einen Ton um eine Quinte tiefer und einen weiteren Ton um eine Quarte höher repräsentieren. Die gesamte Tonfolge erstreckt sich also nun nicht nur über eine, sondern über zwei Oktaven. Diese Zahlen entsprechen zum Beispiel den Tönen f - c' - f' - g' - c" - f":

Die Tonfolge f - c' - f' - g' - c" - f"

Georg Wilhelm Friedrich Hegel ist um 1800 noch davon ausgegangen, dass die Legende über Pythagoras in der Schmiede wahr ist.[11]

Auch heute finden sich immer wieder Veröffentlichungen, in denen die Legende beschrieben wird, ohne dass auf die physikalischen Fehler der Betrachtung eingegangen wird beziehungsweise ohne dass darauf hingewiesen wird, dass diese Geschichte unhistorisch ist.[12]

Widerlegung

Absolute Tonhöhe von Hämmern

Die Eigenfrequenz von Stahlhämmern, die von Menschenhand bewegt werden können, ist meist im Ultraschallbereich und somit unhörbar. Auch Pythagoras kann diese Töne nicht wahrgenommen haben, insbesondere wenn die Hämmer in der Tonhöhe eine Oktave Unterschied gehabt haben sollen.

Tonhöhe in Abhängigkeit vom Hammergewicht

Pythagoreische Hämmer im Gewichteverhältnis 12 : 9 : 8 : 6

Die Tonhöhe eines longitudinal frei schwingenden Festkörpers ist in der Regel nicht proportional zu seinem Gewicht beziehungsweise seinem Volumen, wohl aber proportional zur Länge, die sich bei ähnlicher Geometrie nur mit der Kubikwurzel des Volumens ändert.

Für die pythagoreischen Hämmer gelten bei ähnlicher Geometrie also die folgenden Verhältniszahlen (Angaben in willkürlichen Maßeinheiten):

Gewicht /
Volumen
Verhältniszahl zum
größten Hammer
Hammerkopflänge /
Tonhöhe
Verhältniszahl zum
größten Hammer
12 1,000 2,289 1,000
9 0,750 2,080 0,909
8 0,667 2,000 0,874
6 0,500 1,817 0,794

Tonhöhe in Abhängigkeit von der Saitenspannung

Der Musiktheoretiker Vincenzo Galilei, Schüler von Gioseffo Zarlino und Vater von Galileo Galilei, wies 1589 in seiner Streitschrift „Discorso intorno all'opere di Messer Gioseffo Zarlino“ (deutsch: „Diskurs über die Arbeit von Meister Gioseffo Zarlino“) darauf hin, dass die Tonhöhe einer Saite nicht proportional zur Spannkraft (respektive zum Zuggewicht) ist.[13]

Das physikalische Gesetz, dass die Tonhöhe nämlich nur proportional zur Quadratwurzel der Spannkraft ist, wurde bald darauf von Galileo Galilei und Marin Mersenne veröffentlicht. Um die Tonhöhe zu verdoppeln, muss also eine vierfache Zugkraft, und somit auch ein viermal so schweres Gewicht an eine Saite gehängt werden.

Physikalische Betrachtungen

Konsonanz

Ganzzahlige Frequenzverhältnisse

Vielfaches der Schwebungsfrequenz
in Abhängigkeit vom ganzzahligen
Verhältnis n zweier Frequenzen
Vielfaches der
Grundfrequenz n
Vielfaches der
Schwebungsfrequenz n-1
2 1
3 2
4 3
5 4

Die Tatsache, dass ein Ton mit der Grundfrequenz in Konsonanz zu einem zweiten Ton mit einem ganzzahligen Vielfachen (mit und ) dieser Grundfrequenz steht, ergibt sich zwar schon unmittelbar daraus, dass die Maxima und Minima der Tonschwingungen zeitlich synchron sind, kann aber auch folgendermaßen erklärt werden:

Die Schwebungsfrequenz der beiden gleichzeitig klingenden Töne ergibt sich rechnerisch aus der Differenz der Frequenzen dieser beiden Töne und ist als sogenannter Kombinationston hörbar:
[14]
Diese Differenz steht ihrerseits in einem ganzzahligen Verhältnis zur Grundfrequenz :

Für alle ganzzahligen Vielfachen der Grundfrequenz beim zweiten Ton ergeben sich auch ganzzahlige Vielfache für die Schwebungsfrequenz (siehe auch nebenstehende Tabelle), so dass alle Töne konsonant klingen.

Rationale Frequenzverhältnisse

Schwebungsfrequenz als Vielfaches
der Grundfrequenz in Abhängigkeit
vom rationalen Verhältnis
zweier Frequenzen
Rationales Verhältnis
der Frequenzen
(n+1) : n
Grundfrequenz
als Vielfaches der
Schwebungsfrequenz
2:1 1
3:2 2
4:3 3
5:4 4

Auch für zwei Töne, deren Frequenzen in einem rationalen Verhältnis von zu stehen, gibt es eine Konsonanz. Die Frequenz des zweiten Tones ergibt sich hierbei zu:

Demzufolge ergibt sich für die Schwebungsfrequenz der beiden gleichzeitig klingenden Töne:

Daraus folgt:

Die Grundfrequenz ist also unter dieser Bedingung immer ein ganzzahliges Vielfaches der Schwebungsfrequenz (siehe auch nebenstehende Tabelle), und es entsteht daher ebenfalls keine Dissonanz.

Longitudinale Schwingungen und Eigenfrequenz von Festkörpern

Zur Abschätzung eines Metallklotzes möge ein homogener Quader mit einer maximalen Länge und aus einem Material mit der Schallgeschwindigkeit betrachtet werden. Dieser hat eine für den Schwingungsmodus entlang seiner längsten Seite (Longitudinalschwingung) mit Schwingungsbäuchen an den beiden Enden und einem Schwingungsknoten in der Mitte die tiefste Eigenfrequenz von[15]

.

Die Tonhöhe ist also unabhängig von der Masse und der Querschnittsfläche des Quaders, die Querschnittsfläche darf sogar variieren. Ferner spielen auch die Kraft und die Geschwindigkeit beim Anschlagen des Körpers keine Rolle. Zumindest dieser Sachverhalt deckt sich mit der Pythagoras zugeschriebenen Beobachtung, dass die Tonhöhe nicht von den Händen (und somit den Kräften) der Schmiede abhängig gewesen sei.

Körper mit komplizierterer Geometrie, wie zum Beispiel Glocken, Becher oder Schalen, die eventuell sogar noch mit Flüssigkeiten gefüllt sind, haben Tonhöhen, deren physikalische Beschreibung erheblich aufwendiger ist, da hier nicht nur die Form, sondern auch die Wanddicke oder sogar der Ort des Anschlagens mit berücksichtigt werden müssen. Hierbei werden unter Umständen auch Transversalschwingungen angeregt und hörbar.

Hämmer

Schmiedehammerkopf, Darstellung aus einem US-amerikanischen Schmiedehandwerkslehrbuch von 1899

Ein sehr großer Vorschlaghammer aus Eisen (ungefähre Schallgeschwindigkeit = 5000 Meter pro Sekunde[16]) mit einer Hammerkopflänge = 0,2 Meter hat also eine Eigenfrequenz von 12,5 Kilohertz. Bei einer quadratischen Querschittsfläche von 0,1 Meter mal 0,1 Meter hätte er bei der Dichte von Eisen von 7,874 g/cm³ eine Masse von fast 16 Kilogramm. Bereits Frequenzen oberhalb von etwa 15 Kilohertz können von vielen Menschen gar nicht mehr wahrgenommen werden (siehe auch: Hörfläche), und daher ist die Eigenfrequenz selbst eines solch großen Hammers kaum noch hörbar; kleinere Hämmer und Hämmer aus Stahl haben noch deutlich höhere Eigenfrequenzen, die daher überhaupt nicht hörbar sind.

Ambosse

Ein großer Amboss aus Eisen mit einer Seitenlänge = 0,5 Meter hat jedoch eine Eigenfrequenz von nur 5 Kilohertz und ist somit gut hörbar.

Es gibt eine Vielzahl von Kompositionen, in denen der Komponist die Verwendung von Ambossen als Musikinstrument vorschreibt. Besonders bekannt sind die beiden Opern aus dem Musikdrama Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner:

  • Das Rheingold, Szene 3, 18 Ambosse in F in drei Oktaven
  • Siegfried, 1. Aufzug, Siegfrieds Schmiedelied Nothung! Nothung! Neidliches Schwert!

Materialien mit geringerer Schallgeschwindigkeit als Eisen, wie zum Beispiel Granit oder Messing, erzeugen bei kongruenter Geometrie noch tiefere Frequenzen. Wie auch immer wurde von den hörbaren Klängen der Ambosse in den überlieferten Legenden nicht berichtet, sondern die Klänge wurden immer den Hämmern zugeschrieben.

Metallstäbe

Metallstab mit der Länge l und der Querschnittsfläche A
Vier Meißel mit verschiedener Länge (12, 9, 8, und 6 Einheiten) und gleicher Querschnittsfläche, die bei Anregung entlang der Längsachse mit Tonhöhen proportional zur Länge und zur Masse schwingen.
Klangbeispiele von Meißeln mit Tonhöhen, die in ganzzahligen Verhältnissen zueinander stehen:
Grundton (12 Längeneinheiten)
Quarte (9 Längeneinheiten)
Quinte (8 Längeneinheiten)
Oktave (6 Längeneinheiten)
Meißel mit nicht-ganzzahligem Verhältnis zum Grundton (Tritonus = ½ Oktave):
Tritonus (8,485 Längeneinheiten)

Es ist möglich, Metallstäbe zu vergleichen, wie zum Beispiel Meißel von Steinmetzen oder Spaltkeile zum Steinbrechen, um auf eine ähnliche wie die Pythagoras zugeschriebene Beobachtung zu kommen, dass nämlich die Tonhöhe von Werkzeugen proportional zu deren Gewicht ist. Wenn die Metallstäbe unter der Vernachlässigung der spitz zulaufenden Werkzeugschneiden alle dieselbe gleichmäßige Querschnittsfläche A, aber verschiedene Längen l haben, ist deren Gewicht proportional zur Länge und somit auch zur Tonhöhe, sofern die Metallstäbe durch Schläge entlang der Längsachse zu longitudinalen Schwingungen angeregt werden (Klangbeispiele siehe im Kasten rechts).

Für Biegeschwinger, wie zum Beispiel Stimmgabeln oder die Plättchen von Metallophonen, gelten allerdings andere Bedingungen und Gesetze, sodass diese Überlegungen im Allgemeinen nicht darauf übertragen werden können.

Saitenschwingungen

Schwingende Saite mit der Länge l und der Spannkraft F zwischen zwei Stegen auf einem Resonanzkasten

Saiten können an zwei Seiten auf jeweils einem Steg fixiert werden. Genau andersherum als bei einem Festkörper mit longitudinalen Schwingungen stellen die beiden Stege die Randbedingungen für zwei Schwingungsknoten her, und der Schwingungsbauch befindet sich daher in der Mitte.

Eigenfrequenz und Tonhöhe von Saiten mit der Länge sind nicht proportional zur Spannkraft , sondern nur proportional zur Quadratwurzel der Spannkraft. Darüber hinaus nimmt die Frequenz bei höherem Zuggewicht und somit höherer Spannkraft zu und nicht ab:[17]

Nichtsdestoweniger ist die Tonhöhe bei konstanter Spannkraft aber streng umgekehrt proportional zur Länge der Saite, was mit einem Monochord, das auf Pythagoras zurückgehen soll, direkt nachgewiesen werden kann.

Quellen

Literatur

Einzelnachweise

  1. Karl Heinrich Wörner, in: Geschichte der Musik: ein Studien- und Nachschlagebuch, Kapitel I.1, Entstehung der Musik, Vandenhoeck & Ruprecht, 1993, ISBN 978-3-525-27811-6
  2. Károly Simonyi: "Kulturgeschichte der Physik", Kapitel "Mystik und Mathematik: Pythagoras", Seiten 61 bis 66, Verlag Harri Deutsch, Thun / Frankfurt am Main 1990
  3. Gesellschaft für Gregorianik-Forschung - Ungeklärte Forschungsfragen
  4. Philolaos - Des Pythagoreers Lehren nebst den Bruckstücken seines Werkes, August Boeckh, Vossische Buchhandlung, Berlin, 1819, Seite 14
  5. a b c d Hans Martin Klinkenberg: Der Verfall des Quadriviums im frühen Mittelalter, Kapitel III, in: Artes liberales: von der antiken Bildung zur Wissenschaft des Mittelalters, Band 5 - Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, Brill Archive, 1976, ISBN 978-90-04-04738-9
  6. Wie Pythagoras die Verhältnisse der Zusammenklänge untersucht hat / Auf welche Weisen von Pythagoras die verschiedenen Verhältnisse der Zusammenklänge ausgemessen wurden - De institutione musica
  7. a b Kurze Abhandlung Guidos über die Regeln der musikalischen Kunst, Kapitel XX: Wie die Musik aus dem Klange der Hämmer erfunden worden sei
  8. Frank Hentschel: Die Krise der musica theorica in: Sinnlichkeit und Vernunft in der mittelalterlichen Musiktheorie, Band 47 der Beihefte zum Archiv fur Musikwissenschaft, Verlag Franz Steiner Verlag, 2000, ISBN 978-3-515-07716-3, Seiten 148 bis 150
  9. Werner Keil: Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie - Pythagoras in der Schmiede, Seite 77 und 78
  10. Anja Heilmann: Boëthius' Musiktheorie und das Quadrivium - Pythagoras in der Schmiede, Seite 165
  11. Werner Keil: Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie, Nachwort, Seite 344
  12. Pythagoras - Chi - Tongesetz in: Arnold Keyserling: Geschichte der Denkstile, 3. Das logische Denken, (abgerufen am 28. August 2010); Musik und Mathematik - Musik als Erkenntniswerkzeug (abgerufen am 16. Januar 2011); Arnold Keyserling: "Der neue Name Gottes: die Weltformel und ihre Analogien in der Wirklichkeit", Seite 71, Verlag Böhlau Verlag Wien 2002, ISBN 978-3-2059-9340-7
  13. Werner Keil: Basistexte Musikästhetik und Musiktheorie - Pythagoras in der Schmiede, Seite 76
  14. Mathematische Beschreibung der Schwebung
  15. Bergmann.Schaefer Lerbuch der Experimentalphysik, Band 1, Walther de Gruyter, 1974, 9. Auflage, Kapitel 83: Schallsender, Abschnitt Longitudinalschwingungen
  16. Eisen
  17. Bergmann.Schaefer Lerbuch der Experimentalphysik, Band 1, Walther de Gruyter, 1974, 9. Auflage, Kapitel 83: Schallsender, Abschnitt Saite
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