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Heinrich Zille

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Heinrich Rudolf Zille (* 10. Januar 1858 in Radeburg; † 9. August 1929 in Berlin) war ein Grafiker, Lithograf, Maler, Zeichner und Fotograf.

In seiner Kunst bevorzugte der „Pinselheinrich“ genannte Zille Themen aus dem Berliner „Milljöh“, das er ebenso lokalpatriotisch wie sozialkritisch darstellte – seine Figuren und Szenen stammten vornehmlich aus der sozialen Unterschicht beziehungsweise aus Randgruppen und aus den Berliner Mietskasernen.

Leben und Wirken

Kindheit und Jugend

Zilles Eltern

Heinrich Zille war Sohn des Uhrmachers Johann Traugott Zille und dessen Ehefrau Ernestine Louise, einer Bergmannstochter aus dem Erzgebirge. Der Vater war zunächst Grobschmied, besaß aber soviel handwerkliches Geschick und technische Begabung, dass er es bald zum Uhrmacher, Goldschmied und Erfinder von Werkzeugen brachte. Heinrich Zille wurde in der sächsischen Kleinstadt Radeburg (bei Dresden) geboren. Seine ersten Lebensjahre verbrachte Zille in Potschappel, heute zu Freital gehörend. Heinrich Zilles Kindheit und Jugend war nicht unbeschwert; der Vater saß mehrmals im Schuldgefängnis und Gläubiger ängstigten die Familie so sehr, dass der junge Zille oft zur Großmutter gegeben wurde. 1867 flüchtete die Familie vor den Schuldeneintreibern nach Berlin. Noch auf der Schule begann der junge Zille Zeichenunterricht zu nehmen. Sein Zeichenlehrer ermunterte ihn bei einem Gespräch über seinen Berufswunsch, er solle doch Lithograph werden: „Das beste is, du lernst Lithograph. Zeichnen kannste, und du sitzt in ’ner warmen Stube, immer fein mit Schlips und Kragen [...] man schwitzt nicht und bekommt keine schmutzigen Hände. Und dann wirst du mit Sie angeredet. Was willst du mehr?“ Nach dem Willen seines Vaters sollte Zille eigentlich Metzger werden, aber er konnte kein Blut sehen, also ging er bei dem Steinzeichner Fritz Hecht an der Alten Jakobstraße in die Lehre. [1]

Lehr- und Berufsjahre

Heinrich Zille als junger Familienvater

Parallel nahm Heinrich Zille Studien bei dem Maler, Illustrator und Karikaturisten Professor Theodor Hosemann an der „Königlichen Kunstschule“ auf. Hosemann war ein humorvoller und präziser künstlerischer Beobachter des Altberliner Kleinbürgers und Spießers. Hosemann gab dem Schüler Zille den Rat mit auf den Weg: „Gehen Sie lieber auf die Straße hinaus, ins Freie, beobachten Sie selber, das ist besser, als wenn Sie mich kopieren. Ohne Künstler werden zu wollen, können Sie Zeichnen im Leben immer gebrauchen; ohne Zeichnen zu können, sollte kein denkender Mensch sein.“

Zille als Lithograph

Nach Abschluss der Studien arbeitete Zille ab 1875 in den unterschiedlichsten Betrieben, um sein täglich Brot zu verdienen: er zeichnete Damenmoden, Muster für Beleuchtungskörper, Kitsch- und Werbemotive und porträtierte zu seinem Vergnügen oder gegen einen Obolus Arbeitskollegen. Weiteres berufliches Rüstzeug sollte Zille in der renomierten Lithografieanstalt „Winckelmann & Söhne“ erhalten. Hier lernte er als Geselle die unterschiedlichsten grafischen Techniken kennen: Buntdruck, Zinkographie, die Herstellung von Klischees, Retusche, Ätzradierung und schließlich Lichtdruck und Photogravur. Bei Winckelmann arbeitete Zille mit den späteren Tiermalern Oskar Frenzel und Richard Friese zusammen. Am 1. Oktober 1877 bekam er dank seiner umfassenden Vorkenntnisse eine Anstellung als Geselle bei der „Photographischen Gesellschaft Berlin“ am Dönhoffplatz, bei der er dreißig Jahre lang, mit kurzer Unterbrechung durch den Militärdienst, beschäftigt bleiben sollte. In seinen Berufsjahren verfeinerte der Perfektionist Zille sein grafisches Talent, denn es war ihm wichtig, in seinem Brotberuf so gut wie möglich zu sein. Da die Drucktechnik um die Jahrhundertwende noch in den Anfängen steckte und es noch keinen vollkommenen Bilderdruck auf der Buchdruckpresse gab – die Autotypie war gerade 1880 entwickelt worden –, fertigte man von den Originalen fotografische Aufnahmen an, welche in Kleinarbeit mit dem Retuschierwerkzeug korrigiert wurden.

Zille als Fotograf

Dass Heinrich Zille selbst fotografisch tätig gewesen ist, wurde erst gegen Ende der 1960er Jahre bekannt und dokumentiert. In Zilles Nachlass fanden sich „418 Glasnegative, einige Glaspositive und über 100 Photographien, von denen keine Negative mehr aufzufinden sind.“ [2] Die Entstehungsgeschichte des fotografischen Œuvres wird auf das Jahr 1890 zurückgeschätzt und reicht bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. Vermutlich hat Zille die Fotografie bereits 1907 nach seiner Entlassung aus der „Photographischen Gesellschaft“ aufgegeben. Der Fotografie maß Zille in künstlerischer Hinsicht ohnehin nur geringe Bedeutung zu; er nutzte die Kamera vielmehr als „lichtbildnerischen Notizblock“ für seine grafischen Studien. Er selbst hat sich nie als „Photograph“ bezeichnet und besaß noch nicht einmal eine eigene Kamera, sondern lieh sich die Geräte aus seiner Firma oder von Arbeitskollegen. Auch ist nicht eindeutig nachweisbar, ob das Bildmaterial aus dem Nachlass wirklich ausschließlich von Heinrich Zille stammt.

Militärdienst

„Vadding in Ost und West“

Von 1880–82 absolvierte Zille seine Militärdienstzeit als Grenadier beim Leib-Grenadier-Regiment, erstes Brandenburgisches Nr. 8, in Frankfurt/Oder und als Wachsoldat im Zuchthaus Sonnenburg (heute Słońsk). Für Zille waren diese Jahre eine unliebsame Erfahrung, die er während seiner freien Zeit in zahlreichen Notizen und Skizzen festhielt. Einmal notierte er: „Wir wurden verteilt in die Kompanien, kam man in die Stuben, die Wanzen lauerten schon. In den Betten zerlegenes Müll, Häcksel als Stroh. Schlechtes Essen. Dafür täglich von den Offizieren mit einer Kloake von Kasernenhofblüten und Witzen besudelt. [...] Es diente mit zur Mannschaftsausbildung, dass so ein Laffe von Leutnant sonntags vormittags, bei der Spindrevision, auf das Bild meiner Liebsten, das auf der inneren Seite der Tür befestigt war, zeigen durfte mit der höhnischen Frage: ‚Ihre Sau?‘“ [2]

In den zwei Jahren Dienstzeit entstanden unzählige episodische Soldatenbilder mit vorwiegend humorvollem Charakter, viele dieser Arbeiten sind jedoch verschollen. Zille verarbeitete die eigenen Militärerlebnisse später in seinen „anekdotischen Soldaten- und Kriegsbildern“, die während des Ersten Weltkrieges, in den Jahren 1915 und 1916, sehr erfolgreich als Serien unter den Titeln „Vadding in Frankreich I u. II“ und „Vadding in Ost und West“ erschienen. Die satirischen, wenn auch überwiegend patriotischen Bildbändchen wurden vielfach als Kriegsverherrlichung angesehen, infolgedessen schuf Zille auf Anregung seines Freundes Otto Nagel die eindringlicheren Antikriegsbilder „Kriegsmarmelade“, die allerdings erst lange nach dem Krieg in einer sehr geringen Auflage veröffentlicht wurden und mittlerweile an Aktualität eingebüßt hatten.

Familie

Zilles Heim in der Sophie-Charlotte-Straße 88 (1892)

Nach der Entlassung vom Militär ging Zille zur „Photographischen Gesellschaft“ zurück. Bald darauf lernte er seine Lebensgefährtin kennen: Hulda Frieske, eine Lehrerstochter aus Fürstenwalde, wo am 15. Dezember 1883 die Hochzeit mit einer schlichten Feier stattfand. Bald darauf bezog das junge Paar eine Kellerwohnung im Boxhagen-Rummelsburger Kiez am Grenzweg (vgl.→ Berlin-Rummelsburg); dort kam 1884 die Tochter Margarete zur Welt. 1888 wurde Sohn Hans in der Türschmidtstraße geboren, wohin die Zilles 1887 gezogen waren, darauf folgte 1901 Sohn Walter in der Mozartstraße; alle Quartiere der Zilles lagen im gleichen östlichen Vorort Berlins. Die letzte Etappe führte die Familie 1892 schließlich in eine Dreizimmerwohnung in der Sophie-Charlotte-Straße 88, IV. Stock, welche näher an Zilles Arbeitsstätte lag, denn die „Photographischen Gesellschaft“ war inzwischen in das neue Villenviertel Westend umgezogen. Diese Zeit sollte eine der kreativsten Phasen in Zilles Werk werden. Auch wenn er selbst nicht an einen Erfolg als Künstler glaubte, widmete er sich in seiner knappen Freizeit weiterhin ganz seinen Zeichnungen und Studien. Vom Zeichenstil her war Zille noch sehr von der Zeitschrift „Die Gartenlaube” geprägt. Doch langsam entwickelte er einen geschulten Blick für das Wesentliche und schaffte es mit wenigen routiniert gesetzten Kreide- oder Bleistiftstrichen, eine Bewegung oder eine Situation festzuhalten.

„Zille sein Milljöh“

„Wat – ick habe den Hahn überdreht?' – Det hat die Vorichte jedahn! Der lief schon, als ick kam!“
Heinrich Zille: Mein Milljöh (1913)

Um die Jahrhundertwende begann Heinrich Zille immer bewusster, kleinbürgerliche Szenen aus der Unterschicht für sich als Sujet zu entdecken. Zille fand sein „Milljöh“ in den Hinterhöfen, Seitengassen und Kaschemmen der Arbeiterviertel. 1907 wurde Zille kurzerhand von der „Photographischen Gesellschaft“ entlassen. Den Fünfzigjährigen traf dies hart: Er war verbittert, empört und zutiefst bestürzt. Es sollte eine Zeit dauern, bis Zille begriff, dass er sich hier an der Schwelle zu einem völlig neuen Lebensabschnitt befand: weg vom jahrzehntelangen Werkstattleben hin zum „wahren Leben“ draußen vor der Haustür. Er erinnerte sich an die Worte seines ehemaligen Professors: „Gehen Sie lieber auf die Straße hinaus...“. So begann Heinrich Zille erst nach seiner Entlassung als freier Künstler zu arbeiten und fand nun den für ihn so typischen Duktus, der, mit seinen berlinerischen Texten, Kurzgeschichten und Bonmots versehen, seine Zeichnungen so originell machte. Mittlerweile war der „Pinselheinrich“, wie er liebevoll genannt wurde, in Berlin kein Unbekannter mehr und genoss bereits einen gewissen Ruhm als virtuoser Portraitzeichner. Zilles Arbeiten stießen mit ihrer spöttischen Sozialkritik an der Wilhelminischen Zeit nicht immer auf Gegenliebe. Hinter seinen teilweise bitterbösen Zeichnungen versteckten sich Tragik und Abgrund: „Wenn ick will, kann ick Blut in den Schnee spucken...“ rühmt sich ein kleines schwindsüchtiges Mädchen gegenüber ihrer Mutter. Eine Ausstellung kommentierte ein Offizier erbost mit dem klassischen Satz: „Der Kerl nimmt einem ja die janze Lebensfreude!“

Die Secession und der Erfolg als Künstler

Cirkus-Vorstellung auf dem Hinterhof, 1922

Um die Jahrhundertwende gelang es Heinrich Zille, erste Zeichnungen auszustellen und in Zeitschriften wie „Simplicissimus”, „Jugend – Münchener Illustrierte Wochenschrift für Kunst & Leben” und „Die Lustigen Blätter” zu veröffentlichen. Bald wurde man in den Berliner Künstlerkreisen auf „den Neuen” aufmerksam. Der Kunstkritiker Hans Rosenhagen schätze Zille als „Neue Erscheinung, die mit einer Reihe von ebenso realistisch wirksamen wie humorvollen farbigen Zeichnungen ‚aus dem dunklen Berlin’ und einem höchst drastischen ‚Frühlingswunder’ angenehm auffällt.[3]

Die Lustigen Blätter:
„Berliner Rangen”, 1908

1903 erfolgte alsbald Zilles Aufnahme in die neugegründete Berliner Secession, einer Künstlergruppe, die sich auf Betreiben von Max Liebermann, Walter Leistikow und Franz Skarbina vom bis dahin dominierenden akademischen Kunstbetrieb abgespalten hatte. Zille wurde Protegé und ein guter Freund von Liebermann. Im gleichen Jahr begann Zilles Mitarbeit an der von Th. Th. Heine und Albert Langen herausgegebenen Münchner Satirezeitschrift „Simplicissimus“, hier lernte Zille u.a. den norwegischen Zeichner Olaf Gulbransson kennen; es folgten „Jugend” (1905) und schließlich „Die Lustigen Blätter”, deren Verlag Dr. Eysler & Co. Berlin im Rahmen der Reihe „Künstlerhefte” die ersten volksnahen Millieuzeichnungen Zilles „Kinder der Straße” und „Berliner Rangen” (beide 1908) herausbrachte, welche darauffolgend Zilles auflagenstarke Publikationen einleiteten. Mit den Mappen „Mutter Erde” (1905) und „Zwölf Künstlerdrucke” (1909) mit Heliogravuren von Handzeichnungen und Radierungen erlangte Zille schließlich auch überregionales Renommee als einer der besten deutschen Zeichner. Der Publikumserfolg als freischaffender Künstler kam Zille in Hinblick auf seinen Rauswurf bei der „Photographischen Gesellschaft” gerade recht. Galeristen bemühten sich um den „Professor mit der Nickelbrille”, und gelegentlich verkaufte Zille auch Werke an Privatsammler und schuf Wandbilder für verschiedene Lokalitäten und Bierkeller. Trotz aller Achtungserfolge erwarb die Berliner Nationalgalerie erst 1921 eine größere Anzahl Zeichnungen von ihm.

1910 wurde Zille zusammen mit Fritz Koch-Gotha der Menzelpreis der Berliner Illustrierten Zeitung für seine künstlerische Leistung verliehen. 1913 traten rund 40 Künstler, darunter auch Zille, wiederum aus der Berliner Secession aus und gründeten die Freie Secession. Zille wurde Vorstandsmitglied; Ehrenpräsident war Max Liebermann. Auf Liebermanns Vorschlag wurde Zille 1924 mit der Ernennung zum Professor schließlich Mitglied der Akademie der Künste. Allem Ruhm zum Trotz blieb Zille stets relativ gleichgültig gegenüber den zahlreichen Ehrungen, die ihm zugetragen wurden; dies änderte sich nicht, als mitten in den Entbehrungen des Ersten Weltkriegs seine ersten Bilderbücher erfolgreich verlegt wurden, und auch in späteren Jahren gab sich der Künstler bescheiden.

Spätere Jahre und Tod

Nach dem Krieg musste Zille mehrere private Schicksalschläge hinnehmen: Er selbst litt zunehmend an Gicht und Diabetes. Am 9. Juni 1919 starb Zilles Ehefrau Hulda mit nur 54 Jahren. Auch sein Sohn Hans und seine geliebte Schwiegertochter Anna starben früh. Anna, Ehefrau von Zilles Sohn Walter, starb nur wenige Monate nach Heinrich Zille im Dezember 1929 an einer Lungenembolie, der Sohn Hans starb 1934.

Schon als seine Frau gestorben war, hatte sich Heinrich Zille geschworen, die Wohnung in der Sophie-Charlotte Straße 88, die unlöslich mit seinem Familienglück verbunden war, bis zu seinem Ende nicht aufzugeben: „Meine Wände sollen mein Heim sein, bis ich sterbe.“; von den drei Kindern Grete, Hans und Walter blieb Zille nur eine einzige Enkeltochter, Anneliese Preetz-Zille, die Tochter von seinem Sohn Hans.

Relief auf seinem Grabstein

Der Sohn Walter behielt die Wohnung an der Sophie-Charlotte Straße eine Zeit lang ganz im Sinne seines Vaters, musste den Bestand aber in den Nachkriegsjahren auflösen, um den Lebensunterhalt der Familie zu sichern.

In den letzten Lebensjahren veröffentlichte Heinrich Zille noch zahlreiche Zeichnungen in der Berliner Satire-Zeitschrift Ulk. Den Höhepunkt seiner Popularität erreichte Zille ein Jahr vor seinem Tod mit den großen Feierlichkeiten zu seinem 70. Geburtstag. Im Märkischen Museum wurde eine Retrospektive seiner Werke unter dem Titel „Zilles Werdegang“ ausgestellt.

Im Februar 1929 erlitt Zille schließlich einen ersten, im Mai einen zweiten Schlaganfall. In der Folgezeit zog sich der Künstler immer mehr zurück und ließ an seiner Wohnungstür mit einer gezeichneten Postkarte in zittriger Handschrift ausrichten: „Bin krank. Bitte keinen Besuch.“ Heinrich Zille starb am Morgen des 9. August 1929. Er erhielt ein Berliner Ehrenbegräbnis auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf. Rund 2000 namhafte und namenlose Trauergäste folgten dem Sarg, darunter viele Künstlerkollegen und einfache Leute aus dem Volk. Das auch heute noch gepflegte Grab befindet sich im Teil „Epiphanien“ des riesigen Parkfriedhofs. Es gibt grundsätzlich keine Hinweise zu prominenten Gräbern auf dem Waldfriedhof, nur bei Zille hat man eine Ausnahme gemacht: Ein Schild und ein Stein weisen den Weg „zu Zille“.

Rezeption

Der Name Heinrich Zille ist untrennbar mit der Stadt Berlin verbunden. Zille gehört zu den bekanntesten Berlinern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zählt neben Claire Waldoff, mit der er befreundet war, zu den Berliner Originalen. In der deutschen Hauptstadt ist er in zahlreichen Devotionalien verewigt und der Name Zille untrennbar mit dem Berliner Lokalkolorit verbunden. Mit seinen Zeichnungen erreichte er sowohl das gehobene Bildungsbürgertum als auch das „normale Volk“, das ihm als dankbares Sujet diente.

Betrachtungen zur Person

...es gibt noch einen dritten Zille, und dieser ist mir der liebste. Der ist weder Humorist für Witzblätter noch Satiriker. Er ist restlos Künstler. Ein paar Linien, ein paar Striche, ein wenig Farbe mitunter – und es sind Meisterwerke.

„Die Graphikerin Käthe Kollwitz“ (Datum unbekannt)

Populär und volkstümlich wurde Heinrich Zille zweifelsohne durch die Witz- und Satireblätter; man kannte seine humorvollen, manchmal sarkastischen, aber stets unverwechselbar ins Schwarze treffenden Bildunterschriften in- und auswendig. Doch hinter dem „Pinselheinrich“ versteckte sich noch ein anderer, introvertierter Zille, den nur seine intimsten Freunde kannten und zu schätzen wussten. Jenseits aller Komik und allen Gelächters schirmte er diese Privatsphäre vor neugierigen Blicken ab. In dieser privaten Welt entstanden die unbekannt gebliebenen Zeichnungen und Radierungen, die nie in Zille-Bände Einzug hielten: regungslos wartende, auf Brosamen hoffende Hausiererpaare, auf deren Schultern das ganze Unrecht der Gesellschaft zu lasten scheint; alte Reisigsammlerinnen, die gebückt und von Gram gebeugt noch eine andere Last als die ihrer Kiepen mit sich schleppen; dann gibt es zahlreiche Aktstudien von Arbeiterinnen aus der Zeit nach der Jahrhundertwende, in denen nichts von Zartheit zu finden ist, sondern robuste Leiblichkeit; zahlreiche skizzierte Säuglinge und Kleinkinder, deren Gesichter schon uralt auf den Betrachter wirken; überdies fanden sich frühe Landschaftsstudien und Portraits in Zilles Geheimarchiv. Die zahlreichen einfühlsamen „Privatportraits“ seiner Freunde, unter anderen Ernst Barlach, August Gaul, Lyonel Feininger, Käthe Kollwitz, Max Liebermann, Otto Nagel oder August Kraus, besitzen zwar Zilles Tendenz zur schnellen Karikatur, spiegeln aber auch das Typische, den Charakter des Gesichtes wider.[1]

Käthe Kollwitz und Heinrich Zille verband indes eine besondere langjährige Freundschaft: Beide lebten und arbeiteten in Berlin, begegneten sich häufig in der Akademie und hatten künstlerische Übereinstimmungen: sie widmeten sich, wenn auch auf unterschiedliche Weise, ähnlichen Themen und Sujets.

Mutterwitz und Mundart: Das Berlinische

„Mutta, jib doch die zwee Blumtöppe raus, Lieschen sitzt so jerne ins Jrüne!“

Zille

Die Vielfalt der Zilleschen Milieubeschreibungen, Humoresken und Anekdoten sind eine Einheit von Bild und zumeist handgeschriebener Untertitelung, die nicht ortsgebunden ist. Es sind scheinbar leicht „dahingeworfene“ Millieustudien, gepaart mit derben Dialogen in schnodderigem Berliner Jargon, ohne auf grammatikalische Genauigkeit acht zu nehmen. Die Bildunterschriften sind dabei eher als Kommentare zu verstehen, die in ironischer, manchmal sarkastisch-makaberer Weise Zilles Blick in die Hinterhöfe und wilhelminischen Amtstuben der Jahrhundertwende begleiten. Viele Zille-Bonmots verschärfen den Galgenhumor der Karikatur noch, während andere Zitate die aussichtslose Tristesse mit fatalistischem Witz fast barmherzig zu mildern versuchen: „Besauft eich nich un bringt det Sarg wieder, die Müllern ihre Möblierte braucht'n morjen ooch.”

Bereits zu seinen Lebzeiten hatte Zille bei den formulierfreudigen Berlinern seine Spitznamen: Vom „Vater Zille” dem „Pinselheinrich”, über den „Daumier von der Panke” oder „Raffael der Hinterhöfe“ zum „Herrn Professorchen mit der Nickelbrille”. Zu Zilles Professur setzte die von Friedrich Carl Holtz herausgegebene Wochenschrift „Fridericus” in einer abwertenden Kritik den „Zille seine Namen“ noch einen weiteren hinzu: „Der Berliner Abortzeichner Heinrich Zille ist zum Mitglied der Akademie der Künste gewählt und als solches vom Kultusminister Otto Boelitz [Deutsche Volkspartei. D. Verf.] bestätigt worden. Verhülle, o Muse, Dein Haupt.

Zille und die Kinder

Den Berliner „Rangen“ brachte „Vater Zille“ seine ganze Teilnahme entgegen: er war Patenonkel von unzähligen Berliner Kindern. Zilles Kinderzeichnungen besitzen eine ungeschönte Lebendigkeit; sie sind authentisch. Zille zeichnete „seine Kinder“ ohne Umstände: Ungewaschen, verlumpt und verdreckt mit laufenden oder blutigen Nasen, die sie sehnsüchtig an den gefüllten Schaufenstern der Wohlstandsgesellschaft plattdrücken, um sogleich verscheucht zu werden. „For Zillen kenn’se janich dreckig jenuch sind“, behauptete eine Berliner Mutter.[1] Zilles Kinder streiten und balgen sich und fahren dabei den Erwachsenen mit vorwitzigem berlinischen Dialekt über den Mund. Oftmals finden sich darin philosophische Betrachtungen aus Kindersicht, wie zum Beispiel in einer Zeichnung vom Berliner Weihnachtsmarkt: „Erst zwee Hampelmänner verkooft heute. Die Menschheit hat keen Sinn nich mehr for Harmlose!“ [4]. Kritiker warfen Zille oft vor, seine Kinderzeichnungen seien fern jeglicher Elendsromantik; Zille indes wusste genau, was „seine Kleenen” erwartete, wenn sie heranwuchsen:„Dreiundzwanzig Fennje bekam ’ne Heimarbeiterin, und die Kinder jingen in ’ne Streichholzfabrik und hatten denn von dem Phosphor und Schwefel jar keene Fingernägel mehr. Und da soll man nich mal dazwischenfahren, wenn man erlebt hat, wie sich det Elend von Jeneration zu Jeneration weiterfrißt – wo det Kind schon als Sklave jeboren wird?!” [1]

Zille und die „Pornographie”

Modellpause

Ein Jahr vor Ausbruch des Krieges waren bereits Zilles Bildband Mein Milljöh sowie die Zyklen Berliner Luft und Hurengespräche, letzteres unter dem Pseudonym W. Pfeifer veröffentlicht, erschienen. Zilles ungeschminkte Darstellung von Prostituierten und der sogenannten „Pornographie” erregte vielerorts den Unmut der Sittenwächter und Moralapostel. Die Zwanglosen Geschichten und Bilder, die 1919 bei Fritz Gurlitt in Berlin in einer kleinen, nummerierten Ausgabe erschienen, wurden zeitweilig beschlagnahmt. 1925 wurde Zille wegen der Veröffentlichung seiner Lithografie Modellpause im Simplicissimus, die acht unbekleidete Mädchen zeigt, in Stuttgart gerichtlich belangt. Trotz der Leumundszeugnisse seiner Künstlerfreunde wurde Zille zur Zahlung von 150 Reichsmark und zur Vernichtung sämtlicher Druckplatten verurteilt. Der Autor Lothar Fischer meinte in einer Monografie über Zille, dass ihm das Thema Pornografie ein persönliches Anliegen gewesen wäre, bei den Hurengesprächen handele es sich „nicht um ein Nebenprodukt Zilles, etwa aus finanzieller Not entstanden, sondern das Thema war ihm ein echtes Anliegen.“ [5]

Der unpolitisch-politische Zille

An seinem Leben und seinem Werk gemessen kann Heinrich Zille als sozialkritischer Mensch bezeichnet werden, der trotz aller Anekdoten und Humoresken mit dem Zeichenstift sowohl den Wilhelminismus als auch die nachfolgende Weimarer Republik konterkarierte; den Zulauf der Nationalsozialisten beobachtete er mit Argwohn. Zille, der selbst einer armen Arbeiterfamilie entstammte und als Kind unter Hunger und Not zu leiden hatte, blieb auch als erfolgreicher und finanziell gesicherter Künstler bodenständig, wobei er stets sein Augenmerk auf die Sorgen und Befindlichkeiten der sogenannten „Unterschicht” richtete. Zille war, wie seine Nachkommen auch, zeitlebens sozial engagiert und trat für die Rechte der kleinen Leute ein. [6] Inwiefern man Heinrich Zille allerdings als sozialpolitisch engagierten Menschen einordnen kann, bleibt offen. Er selbst distanzierte sich oft von der Parteipolitik, indem er wiederholt betonte: „Ich will der Politik nicht angehören.” Sicher ist, dass er in seinem privaten Kreis ähnlich denkende Menschen versammelt hatte: seinen Künstlerfreund Otto Nagel beispielsweise, der sich früh der Arbeiterbewegung angeschlossen hatte, oder Käthe Kollwitz, die sich zwar als Sozialistin bezeichnete, aber zeitlebens parteilos war. Im Unterschied zu seinen mittlerweile als Vertreter der „entarteten Kunst“ verfemten Freunden erlebte Zille den Beginn des Dritten Reiches und die damit einhergehenden Repressalien wie Arbeits-, Ausstellungs und Aufenthaltsverbote nicht mehr.

Nach Kriegsende machte sich der 1945 neugegründete Kulturbund der späteren DDR die Nähe Zilles zur Arbeiterbewegung für kulturpolitische Propagandazwecke zunutze und stilisierte den fast in Vergessenheit geratenen Zille und dessen Künstlerkollegen zu Künstlern des Volkes, deren Werk von Arbeiterhand in die Gegenwart gerettet worden sei. An Zilles Wohnhaus in der Sophie-Charlotte-Straße erinnert seit 1949 eine bronzene Gedenktafel an den Künstler. Die in Versalien gesetzte Inschrift lautete: „Die Gedenktafel zum verschrotten gegeben, gerettet von Arbeiterhand, im Jahre 1949 erneuert. In diesem Haus wohnte vom 1. September bis zu seinem Tode der Meister des Zeichenstifts, der Schilderer des Berliner Volkslebens Heinrich Zille geb. 10.1.1858 Radeburg gest. 9.8.1929. Berlin. Seinem Andenken die Stadt Berlin 1931.

Zille im Film

Der Name „Zille“ wurde oft als Zugpferd für Filme über das „Arme-Leute-Berlin” der Jahrhundertwende verwendet. Allerdings haben nur wenige dieser Produktionen direkt etwas mit Zilles Leben zu tun und können somit als „authentisch“ bezeichnet werden:

Die Verrufenen“ von Gerhard Lamprecht aus dem Jahr 1925 entstand noch zu Zilles Lebzeiten mit dessen Zustimmung und förderte die Kommerzialisierung seines Namens. Nach Erzählungen von Heinrich Zille entstand im Jahr seines Todes 1929 zu seinem Gedenken Piel Jutzis Film „Mutter Krausens Fahrt ins Glück“, wobei das Buch von Willy Döll und Jan Fethke stammte. Der Film wurde unter dem Protektorat von Käthe Kollwitz gedreht. Kollwitz zeichnete für die Authentizität des Films verantwortlich und schuf für diesen auch ihr größtes Plakat.

Das DEFA-Musical „Zille und ick“ aus dem Jahr 1983 unter der Regie von Werner W. Wallroth ist lediglich an das Zille-Millieu angelehnt, hat aber wenig mit Zilles Biografie gemein.

Auszeichnungen und Ehrungen

Zu Zilles 100. Geburtstag gab die Deutsche Bundespost eine Briefmarke heraus (Erstausgabetag 10. Januar 1958).

Die Ehrungen in seiner Geburtsstadt sind unter Radeburg/Persönlichkeiten dargestellt.

Am 4. Februar 1970 wurde Heinrich Zille als „Bildchronist des Milljöhs“ durch den Berliner Magistrat postum zum 80. Ehrenbürger Berlins ernannt. Außerdem wird an folgenden Stätten an ihn erinnert:

Denkmäler

  • Alexanderplatz, Köllnischer Park (am Märkischen Museum)[7], Heinrich-Zille-Park, Berlin-Mitte
  • Volkspark Prenzlauer Berg, Pankow

Ehrengrab

  • Südwestkirchhof Stahnsdorf (evangelisch), Bahnhofstraße, Stahnsdorf

Gedenktafeln

Park

Siedlungen und Straßennamen (Auswahl)

Siehe auch

Literatur

Von Heinrich Zille (Auswahl)

Monografien

  • Winfried Ranke (Herausgeber), Heinrich Zille: Vom Milljöh ins Milieu. Heinrich Zilles Aufstieg in der Berliner Gesellschaft, Fackelträger, Hannover 1979; ISBN 3-7716-1406-6
  • Matthias Flügge (Herausgeber), Heinrich Zille: Das alte Berlin: Photographien 1890 - 1910, Schirmer/Mosel, München, Neuauflage 2004; ISBN 978-3829601382
  • Otto Nagel: Heinrich Zille - Leben und Schaffen, Henschel Verlag Berlin, 1968; (im Antiquariat) ASIN B0000BSS2Z

Einzelnachweise

  1. a b c d Werner Schumann: Das große Zille-Album (1957)
  2. a b Heinrich-Zille-Museum Lebenswerk Referenzfehler: Ungültiges <ref>-Tag. Der Name „museum“ wurde mehrere Male mit einem unterschiedlichen Inhalt definiert.
  3. Hans Rosenhagen, Die Kunst, 1902
  4. Heinrich Zille: Kinder der Straße, Sammelband 1908
  5. Lothar Fischer, Künstler-Monographie über Zille, Reinbek 1979
  6. Gespräch mit Heinrich Zilles Großnichte Helen Zille, Berliner Zeitung, 22.07.2006
  7. www.bildhauerei-in-berlin.de: Heinrich Zille, 1965 (Denkmal von Heinrich Drake)

Weblinks

Commons: Heinrich Zille – Album mit Bildern, Videos und Audiodateien

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