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Rudi Dutschke

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Rudi Dutschke

Rudi Dutschke, eigentlich Alfred Willi Rudolf Dutschke (* 7. März 1940 in Schönefeld bei Luckenwalde; † 24. Dezember 1979 in Århus, Dänemark), war ein marxistischer Soziologe. Er gilt als bekanntester Vertreter der westdeutschen Studentenbewegung in den 1960er Jahren (so genannte „68er-Bewegung“). Später gehörte er zu den Gründungsmitgliedern der Partei Die Grünen. Dutschke war mit Gretchen Klotz verheiratet und hatte drei Kinder: Polly, Hosea-Che und Rudi-Marek. Er starb an den Spätfolgen eines Attentats, bei dem er schwere Hirnverletzungen davongetragen hatte.

Leben

Jugend und Studium

Rudi Dutschke, vierter Sohn eines Postbeamten, verbrachte seine Jugendjahre in der DDR. Er war in der evangelischen Jugend von Luckenwalde aktiv, wo er seine "religiös sozialistische" Grundprägung erhielt. Als Leistungssportler (Zehnkampf) wollte er zunächst Sportreporter werden und trat deshalb 1956 in die FDJ ein.

Gedenktafel vor dem Luckenwalder Gymnasium

Durch den Volksaufstand in Ungarn im selben Jahr wurde Dutschke politisiert. Er ergriff Partei für einen demokratischen Sozialismus, der sich gleichermaßen von den USA und der Sowjetunion distanzierte. Der SED stand er ebenfalls ablehnend gegenüber. Im Gegensatz zum antifaschistischen Anspruch ihrer Staatsideologie sah er die alten Strukturen und Mentalitäten im Osten ebenso fortdauern wie im Westen. 1957 trat er öffentlich gegen die Militarisierung der DDR-Gesellschaft und für Reisefreiheit ein. Er verweigerte den Militärdienst in der NVA und rief andere dazu auf. Nach seinem Abitur 1958 und seiner Ausbildung zum Industriekaufmann in einem Luckenwalder VEB verwehrten die DDR-Behörden ihm daher das gewünschte Sportstudium.

Daraufhin pendelte Dutschke regelmäßig nach West-Berlin und wiederholte dort sein Abitur. Nebenher schrieb er Sportreportagen, unter anderem für die B.Z. aus dem Axel-Springer-Verlag. 1961, kurz vor dem Mauerbau, siedelte er nach West-Berlin über, um Soziologie, Ethnologie, Philosophie und Geschichte an der Freien Universität (FU) zu studieren. Ihr blieb er bis zu seiner Promotion 1973 verbunden.

Zunächst studierte Dutschke den Existentialismus Heideggers und Sartres, bald aber auch Marxismus und die Geschichte der Arbeiterbewegung: Er las die Frühschriften von Karl Marx, die marxistischen Geschichtsphilosophen Georg Lukács und Ernst Bloch, die Kritische Theorie (Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse). Angeregt durch die Begegnung mit der US-amerikanischen Theologie-Studentin Gretchen Klotz – seiner späteren Frau – las er auch Theologen wie Karl Barth und Paul Tillich. Aus seinem christlich geprägten wurde nun ein marxistisch fundierter Sozialismus. Dabei betonte er jedoch immer die Entscheidungsfreiheit des Individuums gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen.

Studentenbewegung

Das Studium verband Dutschke schon früh mit praktisch-politischem Engagement. So gab er etwa die Zeitschrift Anschlag heraus, in der Kritik am Kapitalismus, die Probleme der Dritten Welt und neue politische Organisationsformen thematisiert wurden. Das Blatt galt wegen seiner „aktionistischen“ Ausrichtung im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) damals als „anarchistisch“.

1962 gründete Dutschke mit Bernd Rabehl eine Berliner Gruppe der Münchner „Subversiven Aktion“, die sich als Teil der Situationistische Internationale verstand. 1964 ging die Gruppe um Dutschke im Berliner SDS auf. Im Jahr darauf wurde er in dessen politischen Beirat gewählt und bestimmte seine politische Richtung fortan mit.

Ab 1966 organisierte Dutschke mit dem SDS zahlreiche Demonstrationen für Hochschulreformen, gegen die Große Koalition, die Notstandsgesetze und den Vietnamkrieg. Die wachsende Studentenbewegung verknüpfte diese Themen miteinander und verstand sich nun als Teil der Außerparlamentarischen Opposition (APO).

Am 23. März des Jahres heiratete er Gretchen Klotz. Im Mai bereitete er den bundesweiten Vietnamkongress in Frankfurt a.M. mit vor. Hauptreferate dort hielten bekannte Professoren der „Neuen Linken“ (u.a. Herbert Marcuse, Oskar Negt) und der eher „traditionalistischen“ Linken außerhalb der SPD (Frank Deppe, Wolfgang Abendroth).

Im diesem Jahr wollte Dutschke mit einer Arbeit über Lukács bei Professor Hans-Joachim Lieber, dem damaligen Rektor der FU, promovieren. Nach Auseinandersetzungen um das politische Mandat des Berliner AStA und die Nutzung von Universitätsräumen für Aktionen gegen den Vietnamkrieg verlängerte Lieber Dutschkes Assistentenvertrag an der FU Berlin nicht. Damit schied eine akademische Laufbahn für ihn vorerst aus.

Nachdem am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einem Polizisten erschossen worden war, riefen Dutschke und der SDS bundesweit zu Sitzblockaden auf, um die Aufklärung der Todesumstände zu erzwingen. Zudem forderten sie den Rücktritt der Verantwortlichen für den Polizeieinsatz und die Enteignung des Verlegers Axel Springer. Die Studenten machten die kampagnenartige Berichterstattung der Zeitungen seines Verlags für Ohnesorgs Tod mitverantwortlich. Ihre Sicht wurde nun auch erstmals von etablierten Medien - dem Spiegel, der Frankfurter Rundschau und der Zeit – aufgegriffen. Jedoch solidarisierten sich nur wenige Professoren, darunter Dutschkes Freund Helmut Gollwitzer, mit den protestierenden Studenten.

Im Zusammenhang vieler damaliger Bildungsreform-Anläufe bereitete Dutschke eine „Kritische Universität“ an der FU West-Berlins mit vor. Im Wintersemester 1967/68 führten etwa 400 West-Berliner Studenten in Eigenregie 33 Arbeitskreise durch. Sie befassten sich überwiegend mit Fragen der Hochschulreform und mit Berufschancen für Akademiker in der arbeitsteiligen Gesellschaft; zwei Arbeitskreise thematisierten „Wirtschaftskrise und Sozialpolitik in Westberlin“ oder „Rechtsstaat und Demokratie in Deutschland“. Sie sollten nach dem Vorbild ähnlicher Versuche in Berkeley und Paris eigene Vorstellungen basisdemokratischen Lernens umsetzen und den Aufbau einer für Schüler und Arbeiter offenen „Gegenuniversität“ beginnen.

Podiumsdiskussionen und Interviews, u.a. mit Rudolf Augstein, Ralf Dahrendorf und Günter Gaus, machten Dutschke nun auch bundesweit bekannt. Er erfuhr jedoch auch zunehmend Ablehnung und offenen Hass. Als er bei einem „Go-in“ in der Berliner Gedächtniskirche versuchte, im Weihnachtsgottesdienst 1967 eine Diskussion über den Vietnamkrieg zu führen, wurde er von einem wütenden Gottesdienstbesucher niedergeschlagen und verletzt.

Zur Vorbereitung eines „Internationalen Vietnam-Kongresses“, den Dutschke plante, fuhr er von November 1967 bis Januar 1968 mehrfach nach Ost-Berlin, um Gespräche mit der FDJ-Leitung zu führen. Ziel war eine „Aktionseinheit“ von SDS und FDJ gegen den Vietnam-Krieg. Dutschkes Vorschlag, gemeinsam ein Schiff mit Waffen und Freiwilligen zur Unterstützung des Vietcong loszuschicken, wurde aber nicht weiter verfolgt.

Am Vietnam-Kongress selbst, der nach Schwierigkeiten mit dem Akademischen Senat der FU am 17. und 18. Februar 1968 an der Berliner TU stattfand, beteiligten sich mehrere tausend Studenten. Die Abschlussdemonstration wurde die bis dahin größte deutsche Protestveranstaltung gegen den Vietnamkrieg. Dabei rief Dutschke zur massenhaften Desertion amerikanischer Soldaten und zur „Zerschlagung der NATO“ auf. Sein Plan, die polizeilich genehmigte Route zu verlassen und vor den amerikanischen Kasernen zu demonstrieren, wurde jedoch fallengelassen, da mit Schusswaffengebrauch der Wachsoldaten zu rechnen war.

Das aufgeheizte politische Klima zeigte sich auch am 21. Februar bei einer vom Berliner Senat organisierten „Pro-Amerika-Demonstration“, auf der Teilnehmer Plakate mit der Aufschrift „Volksfeind Nr. 1: Rudi Dutschke“ trugen. Dort wurde ein Passant mit Dutschke verwechselt. Aufgebrachte Demonstrationsteilnehmer drohten, ihn zu erschlagen.

Attentat

Gedenktafel für Rudi Dutschke

Am 11. April 1968 wurde Dutschke vor dem SDS-Büro von dem jungen Hilfsarbeiter Josef Bachmann abgepasst, der drei Schüsse auf ihn abfeuerte. Er erlitt lebensgefährliche Gehirnverletzungen und überlebte nur knapp nach einer mehrstündigen Operation. Heute erinnert eine Gedenktafel am Tatort vor dem Haus Kurfürstendamm 141 an das Attentat.

Bachmanns Motive wurden nie ganz aufgeklärt; man fand bei ihm ein Zeitungsfoto von Dutschke sowie die Nationalzeitung und vermutete daher rechtsextreme Hintergründe. Viele Studenten machten die Springerpresse für das Attentat verantwortlich, da diese zuvor monatelang gegen Dutschke und die demonstrierenden Studenten agitiert hatte. Die BILD z.B. hatte Tage zuvor zum „Ergreifen“ der „Rädelsführer“ aufgerufen. Bei den folgenden Protestkundgebungen kam es zu den bis dahin schwersten Ausschreitungen in der Geschichte der Bundesrepublik, bei denen auch das Verlagsgebäude Axel Springers angegriffen und Auslieferungsfahrzeuge für seine Zeitungen angezündet wurden.

Dutschke musste sich Sprache und Gedächtnis in monatelanger Therapie mühsam wieder aneignen. Zur Genesung hielt er sich ab 1969 in der Schweiz auf, dann in Italien und Großbritannien. Von dort wurde er während eines Irland-Urlaubs zunächst vorübergehend ausgewiesen, bald darauf wegen angeblicher „subversiver Tätigkeit“ endgültig. Daher musste er sein 1970 begonnenes Studium an der Universität Cambridge abbrechen. Daraufhin zog er nach Dänemark, wo er eine Anstellung als Dozent an der Universität von Aarhus erhielt.

Bachmann wurde wegen versuchten Mordes zu sieben Jahre Zuchthaus verurteilt. Dutschke nahm brieflich Kontakt mit ihm auf, erklärte ihm, er habe keinen persönlichen Groll gegen ihn und versuchte, ihn von der Richtigkeit eines sozialistischen Engagements zu überzeugen. Bachmann beging jedoch am 24. Februar 1970 im Gefängnis Suizid. Dutschke bedauerte, ihm nicht öfter geschrieben zu haben: „...der Kampf für die Befreiung hat gerade erst begonnen; leider kann Bachmann daran nun nicht mehr teilnehmen...

Spätzeit

Ab 1972 bereiste Dutschke wieder die Bundesrepublik. Er suchte nun vermehrt Gespräche mit Gewerkschaftern und Sozialdemokraten, darunter Gustav Heinemann, dessen Ziel eines blockfreien entmilitarisierten Gesamtdeutschlands er teilte. Am 14. Januar 1973 hielt er auf einer Demonstration gegen den Vietnamkrieg in Bonn erstmals nach dem Attentat wieder eine öffentliche Rede. Vom Juli des Jahres an besuchte er mehrfach Ost-Berlin und traf Wolf Biermann, mit dem er fortan befreundet war. Auch mit SED-Dissidenten wie Robert Havemann und später Rudolf Bahro nahm er Kontakt auf.

1974 veröffentlichte er seine Dissertation und erhielt ein Jahr darauf ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der FU Berlin.

Im Februar leitete Dutschke eine Podiumsdiskussion über „Solschenizyn und die Linke“, in der er für Menschenrechte in der Sowjetunion und im Ostblock eintrat. Seit 1976 war er Mitglied im Sozialistischen Büro, einer „undogmatischen“ linken Gruppe, die im Zerfall des SDS entstanden war. Hier engagierte er sich für den Aufbau einer Partei, die grün-alternative und linke Initiativen unter Ausschluss der K-Gruppen vereinen sollte.

1977 wurde er freier Mitarbeiter verschiedener linksgerichteter Zeitungen und Gastdozent an der Universität Groningen in den Niederlanden. Er unternahm Vortragsreisen über die Studentenbewegung, nahm am „Internationalen Russell-Tribunal“ gegen die Berufsverbote und einigen Großdemonstrationen der Anti-Atomkraftbewegung in Wyhl am Kaiserstuhl und Brokdorf teil.

Nachdem Bahro in der DDR zu acht Jahren Haft verurteilt worden war, leitete Dutschke im November 1978 den Bahro-Solidaritätskongress in West-Berlin. 1979 wurde er Mitglied bei der Grünen Liste in Bremen und beteiligte sich an ihrem Wahlkampf. Nach ihrem Einzug in das Stadtparlament wurde er zum Delegierten für den Gründungskongress der Partei Die Grünen gewählt.

Am Heiligabend des Jahres 1979 ertrank Dutschke in der heimischen Badewanne, nachdem er als Spätfolge des Attentats einen epileptischen Anfall erlitten hatte. Am 3. Januar 1980 fand unter großer öffentlicher Anteilnahme seine feierliche Beisetzung auf dem St.-Annen-Friedhof in Berlin-Dahlem statt. Etwa 6.000 Gäste begleiteten den Trauerzug, Helmut Gollwitzer hielt die Ansprache. Drei Monate darauf wurde Dutschkes Sohn Rudi Marek geboren.

Denken

Grundposition

Dutschke verstand sich seit seiner Jugendzeit als antiautoritärer demokratischer Sozialist. In seiner Studienzeit entwickelte er sich zu einem überzeugten revolutionären Marxisten in der Nachfolge des ungarischen Philosophen Georg Lukács. Ähnlich wie dieser betonte er die „libertären“, oft vergessenen Traditionen der Arbeiterbewegung sowohl gegen den Reformismus als auch den Stalinismus.

Dutschkes Ziel war die „totale Befreiung der Menschen von Krieg, Hunger, Unmenschlichkeit und Manipulation“ durch eine „Weltrevolution“. Mit dieser radikalen Erlösungsutopie knüpfte er an den christlichen Sozialismus seiner Jugend an, auch wenn er nicht mehr an einen persönlichen, transzendenten Gott glaubte. 1978 bekannte er bei einem Treffen mit Martin Niemöller:

Ich bin ein Sozialist, der in der christlichen Tradition steht. Ich bin stolz auf diese Tradition. Ich sehe Christentum als spezifischen Ausdruck der Hoffnungen und Träume der Menschheit.

Ausdruck der Verbindung beider Traditionen war die lebenslange Freundschaft zu Helmut Gollwitzer und der Doppelname seines ersten Sohnes „Hosea-Che“, der auf den biblischen Propheten Hosea und den kubanischen Revolutionär und Guerilla-Kämpfer Che Guevara anspielte.

Ökonomische Analyse

Dutschke versuchte, die marxsche Kritik der politischen Ökonomie auf seine Gegenwart anzuwenden und weiterzuentwickeln. Er sah das Wirtschafts- und Sozialsystem der Bundesrepublik Deutschland als Teil eines weltweiten komplexen Kapitalismus, der alle Lebensbereiche durchdringe und die lohnabhängige Bevölkerung unterdrücke. Die soziale Marktwirtschaft beteilige das Proletariat zwar am relativen Wohlstand der fortgeschrittenen Industrieländer, binde es dadurch aber in den Kapitalismus ein und täusche es über die tatsächlichen Machtverhältnisse hinweg.

Repräsentative Demokratie und Parlamentarismus waren daher für Dutschke Ausdruck einer „repressiven Toleranz“ (Herbert Marcuse), die die Ausbeutung der Arbeiter verschleiere und die Privilegien der Besitzenden schütze. Diese Strukturen sah er als nicht reformierbar an; sie müssten vielmehr in einem langwierigen, international differenzierten Revolutionsprozess umgewälzt werden, der er als „langen Marsch durch die Institutionen“ bezeichnete.

In der Bundesrepublik erwartete Dutschke nach dem Ende des Wirtschaftswunders eine Periode der Stagnation: Die Subventionierung unproduktiver Sektoren wie Landwirtschaft und Bergbau werde künftig nicht mehr finanzierbar sein. Der dadurch absehbare massive Abbau von Arbeitsplätzen werde eine Strukturkrise erzeugen, die den Staat zu immer tieferen Eingriffen in die Wirtschaft veranlassen und in einen „integralen Etatismus“ münden werde: Der Staat werde die Wirtschaft lenken, aber das Privateigentum formal beibehalten. Dieser Zustand sei nur mit Gewalt gegen die aufbegehrenden Opfer der Strukturkrise zu stabilisieren.

Im technischen Fortschritt sah Dutschke Ansatzpunkte für eine grundlegende Gesellschaftsveränderung: Automatisierung, Computerisierung und Nutzung der Atomkraft zu friedlichen Zwecken lasse die Notwendigkeit der Lohnarbeit zunehmend wegfallen. Damit werde Arbeitszeit freigesetzt, die gegen das „System“ aktiviert werden könne. Für den nötigen Umsturz fehle der Bundesrepublik jedoch ein „revolutionäres Subjekt“. Gestützt auf Marcuse (Der eindimensionale Mensch) glaubte Dutschke, ein „gigantisches System von Manipulation“ stelle „eine neue Qualität von Leiden der Massen her, die nicht mehr aus sich heraus fähig sind, sich zu empören.“ Die deutschen Proletarier lebten verblendet in einem „falschen Bewusstsein“ und könnten den abstrakten Gewaltzusammenhang des kapitalistischen Staates daher nicht mehr unmittelbar wahrnehmen. Eine „Selbstorganisation ihrer Interessen, Bedürfnisse, Wünsche“ sei damit „geschichtlich unmöglich geworden.

Antiimperialistische Gewalt und antiautoritäre Provokation

Dutschke glaubte, die Bedingungen für die Überwindung des weltweiten Kapitalismus seien in den reichen Industriestaaten und der sog. Dritten Welt unterschiedlich. Anders als Marx es erwartet hatte, werde die Revolution nicht im hochindustrialisierten Mitteleuropa beginnen, sondern von den verarmten und unterdrückten Völkern der „Peripherie“ des Weltmarkts ausgehen.

Im Vietnamkrieg sah er den Beginn dieser revolutionären Entwicklung, die auch auf andere Dritte-Welt-Länder übergreifen könne. Er bejahte dazu ausdrücklich die Gewalt des Vietcong:

Dieser revolutionäre Krieg ist furchtbar, aber furchtbarer würden die Leiden der Völker sein, wenn nicht durch den bewaffneten Kampf der Krieg überhaupt von den Menschen abgeschafft wird.

Er teilte hier die antiimperialistische Theorie von Frantz Fanon und Che Guevara, wonach der von „revolutionärem Hass“ geleitete Befreiungskampf der Völker zuerst die „schwächsten Glieder“ in der Kette des Imperialismus zerreißen sollte: „Schaffen wir zwei, drei, viele Vietnam“.

Dutschke schloss Gewalt auch für die Bundesrepublik nicht aus. Auf die Frage, ob er sich davon distanziere, antwortete er 1968:

Nein, aber die Höhe unserer Gegengewalt bestimmt sich durch das Maß der repressiven Gewalt der Herrschenden“.

In diesem reziproken Sinn hielt er einen Guerillakrieg in der deutschen Situation nicht für angemessen. Der langfristige Erfolg von Umsturzversuchen in der Dritten Welt hing für ihn davon ab, dass auch den „Massen“ in den „Metropolen“ des Kapitalismus ihre Unterdrückung bewusst werde. Er glaubte, dass die hiesige antiautoritäre Studentenbewegung diesen Zusammenhang zuerst erkennen würde und die Verblendung des „verbürgerlichten“ Proletariats von den Universitäten her allmählich aufbrechen könne.

Schon 1965 verlangte Dutschke dazu: „Genehmigte Demonstrationen müssen in die Illegalität überführt werden. Die Konfrontation mit der Staatsgewalt ist zu suchen und unbedingt erforderlich“. Am 21. Oktober 1967 konkretisierte er die Zielrichtung dieser Konfrontation:

Die Durchbrechung der Spielregeln der herrschenden kap[italistischen] Ordnung führt nur dann zur manifesten Entlarvung des Sytems als `Diktatur der Gewalt´, wenn wir zentrale Nervenpunkte des Systems in mannigfaltiger Form (von gewaltlosen offenen Demonstrationen bis zu konspirativen Aktionsformen) angreifen (Parlament, Steuerämter, Gerichtsgebäude, Manipulationszentren wie Springer-Hochhaus oder SFB, Amerika-Haus, Botschaften der unterdrückten Nationen, Armeezentren, Polizeistationen u.a.m.).

„Organisierte Irregularität“, also systematische Verstöße gegen die Regeln des bürgerlichen Staates sollten diesen zu gewalttätiger Reaktion provozieren. Die „sinnliche Erfahrung“ dieser sonst „latenten“ staatlichen Gewalt und Aufklärung darüber sollten gemeinsam das "falsche Bewusstsein" aufheben und die tatsächliche Unfreiheit zunächst bei den Akteuren, dann auch bei deklassierten Arbeitern und Arbeitslosen transparent machen. Der Revolutionär revolutioniere sich damit gleichsam selbst: Dies sei die „entscheidende Voraussetzung für die Revolutionierung der Massen“.

Die Protestformen der APO setzten diese „antiautoritäre Provokation“ zum Teil um und nahmen die Öffentlichkeit zur Politisierung der Bevölkerung in Anspruch. Dazu wurden z.B. Demonstrationsverbote missachtet und vorgeschriebene Demonstrationsorte und -routen verlassen. Sitzstreiks, „Go-Ins“, Tomatenwürfe und „Pudding-Attacken“ auf Staatsbesucher und Herrschaftssymbole usw. sollten den bürgerlichen Staat zwingen, seine „liberale Maske“ abzulegen und die Gewalt offen zu zeigen, die ihm strukturell inhärent sei.

Nach Benno Ohnesorgs Tod schien dieses Konzept aufzugehen: Die Reaktion der Staatsgewalt auf die Proteste entsetzte viele Menschen und motivierte sie zu verstärktem Protest. 1968 erreichte dieser ein Ausmaß, das eine Revolution für viele der damals Beteiligten greifbar nahe zu rücken schien.

Dutschke glaubte wie viele im SDS damals, man könne Staat und Volk in einen zunehmend gewaltsam ausgetragenen Widerspruch treiben und so eine Revolution herbeiführen:

Es hängt primär von unserem Willen ab, wie diese Periode der Geschichte ausgeht (...) Es hängt von unseren schöpferischen Fähigkeiten ab, kühn und entschlossen die sichtbaren und unmittelbaren Widersprüche zu vertiefen und (..) kühn und allseitig die Initiative der Massen zu entfalten.

Gegen dieses Konzept erhob Jürgen Habermas am 9. Juni 1967 zwei scharfe Vorwürfe: Die Revolution allein von der Entschiedenheit der Revolutionäre abhängig zu machen, wie es die Anarchisten des 19. Jahrhunderts getan hatten, statt marxistisch auf die Entwicklung der Produktionsverhältnisse zu setzen, nannte er „Voluntarismus“. Nachgerade als „linken Faschismus“ bezeichnete er Dutschkes Vorhaben, „die sublime Gewalt, die notwendig in den Institutionen enthalten ist, manifest werden“ zu lassen: Dadurch würden Faschismustendenzen in Staat und Volk erst geweckt, statt sie zu verringern. Später bedauerte Habermas seine Wortwahl, hielt den Vorwurf aber der Sache nach aufrecht.

Dutschke dagegen glaubte, nur Gegenwehr könne die Staatsgewalt zurückdrängen und so Menschenleben retten (Tagebuch 10. Juni 1967):

H[abermas] will nicht begreifen, dass allein sorgfältige Aktionen Tote, sowohl für die Gegenwart als auch noch mehr für die Zukunft 'vermeiden' können. Organisierte Gegengewalt unsererseits ist der größte Schutz, nicht 'organisierte Abwiegelei' a la H[abermas]. Der Vorwurf der 'voluntaristischen Ideologie' ehrt mich...

Dutschke unterschied Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen; letztere lehnte er zwar nicht prinzipiell, aber für die bundesdeutsche Situation ab. Auch an Gewalt gegen Sachen beteiligte er sich nicht aktiv, wenn er auch Sprengstoffanschläge auf einen Sendemast des amerikanischen Soldatensenders AFN oder ein Schiff mit Versorgungsgütern für die US-Armee in Vietnam mit vorbereitete. Beide Anschläge blieben unausgeführt, teils wegen praktischer Probleme, teils weil Verletzung von Personen nicht ausgeschlossen werden konnte.

Auf die Frage: „Würden Sie für Ihre revolutionären Ziele notfalls auch mit der Waffe in der Hand eintreten?“ antwortete er im Dezember 1967:

Wäre ich in Lateinamerika, würde ich mit der Waffe in der Hand kämpfen. Ich bin nicht in Lateinamerika, ich bin in der Bundesrepublik. Wir kämpfen dafür, dass es nie dazu kommt, dass Waffen in die Hand genommen werden müssen. Aber das liegt nicht bei uns. Wir sind nicht an der Macht. Die Menschen sind sich ihres eigenen Schicksals nicht bewusst ... Wenn 1969 der NATO-Austritt nicht vollzogen wird, wenn wir reinkommen in den Prozess der internationalen Auseinandersetzung – es ist sicher, dass wir dann Waffen benutzen werden, wenn bundesrepublikanische Truppen in Vietnam oder anderswo kämpfen – dass wir dann im eigenen Lande auch kämpfen werden.

Während er dies nach seinem Attentat nicht wiederholte, hielt er an der Aufklärung durch auch irreguläre Aktionen fest. Im Rückblick sah er sein Konzept durchaus als wirksam an (Tagebuch 4. März 1974): „Nach dem Vietnam-Kongress war der Höhepunkt der faschistoiden Tendenz bald beseitigt.

Verhältnis zum Terrorismus

Dutschke grenzte sich als antiautoritärer Marxist stets von allen „Kader“-Konzepten ab, die sich von der Bevölkerung isolierten und deren Bewusstwerdung verhinderten. Ebenso kritisch stand er auch dem „Individualterror“ gegenüber, der nach dem Zerfall des SDS seit 1970 von verschiedenen linksradikalen Gruppen wie den „Tupamaros Westberlin“ oder der RAF verübt wurde.

Am 9. November 1974 starb das RAF-Mitglied Holger Meins an einem Hungerstreik im Gefängnis. Bei seiner Beerdigung rief Dutschke mit erhobener Faust: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Auf die heftige Kritik daran reagierte er nach dem Mord an Günter von Drenkmann mit einem Leserbrief an den Spiegel, in dem er erklärte:

„'Holger, der Kampf geht weiter' - das heißt für mich, dass der Kampf der Ausgebeuteten und Beleidigten um ihre soziale Befreiung die alleinige Grundlage unseres politischen Handelns als revolutionäre Sozialisten und Kommunisten ausmacht. [...] Die Ermordung eines antifaschistischen und sozialdemokratischen Kammer-Präsidenten ist aber als Mord in der reaktionären deutschen Tradition zu begreifen. Der Klassenkampf ist ein Lernprozess. Der Terror aber behindert jeden Lernprozess der Unterdrückten und Beleidigten.

In einem Privatbrief an den SPD-Bundestagsabgeordneten Freimut Duve vom 1. Februar 1975 erklärte Dutschke sein Auftreten an Meins´ Grab für zwar „psychologisch verständlich“, politisch aber „nicht angemessen reflektiert“.

Am 7. April 1977, dem Tag des Mordes an Generalbundesanwalt Siegfried Buback, notierte er in sein Tagebuch:

Der Bruch der linken Kontinuität im SDS, die verhängnisvollen Auswirkungen werden erkennbar. Was tun? Die sozialistische Partei wird immer unerlässlicher!

Er sah nun eine Parteigründung links von der SPD als notwendige Alternative zum Terrorismus an.

Im Deutschen Herbst 1977 wurde vielen Linksintellektuellen vorgeworfen, sie hätten den „geistigen Nährboden“ der RAF geschaffen. In der Zeit vom 16. September gab Dutschke den Vorwurf an die „herrschenden Parteien“ zurück und warnte vor den Folgen des Terrors:

Der individuelle Terror [führt] später in die individuelle despotische Herrschaft, aber nicht in den Sozialismus.

Dennoch griff ihn z.B. die Stuttgarter Zeitung vom 24. September des Jahres persönlich als Wegbereiter der RAF an:

Es ist Rudi Dutschke gewesen, der [...] gefordert hatte, das Konzept Stadtguerilla müsse hierzulande entwickelt und der Krieg in den imperialistischen Metropolen entfesselt werden.

Dagegen meinte Dutschke, das Attentat auf ihn habe ein „geistiges, politisches und sozialpsychologisches Klima der Unmenschlichkeit“ hervorgerufen (Nachlass, 2. August 1978), und betonte nochmals:

Individueller Terror [...] ist massenfeindlich und antihumanistisch. Jede kleine Bürgerinitiative, jede politisch-soziale Jugend-, Frauen-, Arbeitslosen-, Rentner- und Klassenkampfbewegung [...] ist hundertmal mehr wert und qualitativ anders als die spektakulärste Aktion des individuellen Terrors.

Verhältnis zum Staatskommunismus

Für Dutschke waren Demokratie und Sozialismus untrennbar miteinander verbunden. Die Verfügung der Arbeiter über die Produktionsmittel sollte das Erbe der französischen Revolution, die „bürgerlichen“ Freiheitsrechte, bewahren und die freie Entfaltung des Individuums ermöglichen und erweitern.

Deshalb grenzte er sich seit 1956 gegen den Leninismus der Sowjetunion und der von ihr beherrschten Staaten ab. Er sah diesen als doktrinäre Entartung des genuinen Marxismus zu einer neuen „bürokratischen“ Herrschaftsideologie. Er forderte und erwartete seit dem 17. Juni 1967 auch im Ostblock eine durchgreifende Revolution zu einem selbstbestimmten Sozialismus. Im SDS setzte er sich intensiv mit den DDR-Sympathisanten und „Traditionalisten“ und ihrem an Lenins Konzept einer Kaderpartei angelehnten Revolutionsverständnis auseinander. Ein Stasi-Spitzel im SDS meldete daraufhin in die MFS-Zentrale nach Ost-Berlin, Dutschke vertrete „eine völlig anarchistische Position“; ein anderer IM meldete: „Dutschke spricht ausschließlich vom Scheißsozialismus in der DDR“.

Den Prager Frühling begrüßte Dutschke vorbehaltlos. Nach dessen Niederschlagung übte er Selbstkritik, weil der SDS mit der SED gegen den Vietnamkrieg zusammenarbeitet hatte:

Sind wir gar einem riesigen Fremd- und Eigenbetrug anheimgefallen? [...] Warum geht eine SU (ohne Sowjets), die sozialrevolutionäre Bewegungen in der Dritten Welt unterstützt, imperialistisch gegen ein Volk vor, welches selbständig unter Führung der kommunistischen Partei die demokratisch-sozialistische Initiative ergriff? [...] Ohne Klarheit an dieser Ecke ist ein sozialistischer Standpunkt der konkreten Wahrheit, Glaubwürdigkeit und Echtheit unmöglich, werden gerade die Unterdrückten, Ausgebeuteten und Beleidigten in der BRD und der DDR im besonderen nicht bereit sein, über Lohnkämpfe hinaus in den politischen Klassenkampf einzusteigen.

Eine Zeit lang begrüßte Dutschke Mao Zedongs Kulturrevolution wie auch die Roten Khmer unter Pol Pot als Beitrag zur erhofften Entbürokratisierung des Staatskommunismus und zur Überwindung der „asiatischen Produktionsweise“. Doch schon 1968 grenzte er sich unter dem Einfluss von Ernest Mandel vom Maoismus ab. Von den nun entstehenden K-Gruppen, die sich kritiklos an China oder Albanien anlehnten, distanzierte er sich ebenfalls.

Dutschkes Dissertation (Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen, 1974) erklärte die Ursachen der sowjetisch-chinesischen Fehlentwicklung im Gefolge Karl August Wittfogels mit der marxistischen Gesellschaftsanalyse. Er vertrat hier die Ansicht, dass die Voraussetzungen für eine sozialistische Revolution in Russland nie bestanden hätten, und nahm stattdessen eine ungebrochene Kontinuität der „asiatischen Despotie“ von Dschingis Khan bis zu Stalins Zwangskollektivierung und Zwangsindustrialisierung an. Während Lenin 1905 noch für die Entfaltung des Kapitalismus in Russland plädiert habe, damit dort eine echte Arbeiterklasse heranwachsen könne, sei schon sein „Oktoberputsch“ von 1917 als Rückfall in die „allgemeine Staatssklaverei“ anzusehen. Die Entwicklung von Lenin zu Stalin sei logische Folge des Parteien- und Fraktionsverbots gewesen. Stalins Versuch, die Produktivität der Sowjetunion durch brutale Zwangsindustrialisierung zu steigern, habe ihre Abhängigkeit vom kapitalistischen Weltmarkt nie beseitigen können. Er habe nur einen neuen Imperialismus hervorgebracht, so dass militärische Unterstützung von Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt und Unterdrückung von selbstbestimmten Sozialismusversuchen im Ostblock eine logische Einheit darstellten.

Der Stalinismus sei manifester „Anti-Kommunismus“, der eine „Monopolbürokratie“ geschaffen habe, die nicht minder aggressiv sei als die „Monopolbourgeoisie“, die Stalin für den deutschen Faschismus verantwortlich machte. Somit sei es kein Zufall, dass seine Gulags und KZs nach 1945 nicht verschwunden, sondern aufrecht erhalten worden seien. Diesen systembedingten, nicht als „Entartung“ der Politik Lenins zu begreifenden Charakter der Sowjetunion hätten auch Leo Trotzki, Bucharin, Karl Korsch, Rudolf Bahro, Jürgen Habermas und andere marxistische Kritiker und Analytiker nicht voll erkannt.

Der isolierte „Sozialismus in einem Land“ sei eine „antidynamische Sackgassenformation“, die sich nur noch durch Kredite und Importe aus dem Westen am Leben erhalten könne. Alle ihre scheinbaren inneren Reformanläufe seit Chrustschow und dem XX. Parteitag 1956 seien nur Mittel zum Überleben der ZK-Bürokratie gewesen:

Von pseudo-linker, gutgemeinter moralisch-romantischer Position kann man es gutheißen, Produktionsweisen zu 'überspringen', mit einem sozialistischen Standpunkt hatte (und hat) die Moskauer Position desgleichen wie die Pekinger nie etwas zu tun.

Aufgrund dieser eindeutigen Haltung galt Dutschke der Stasi bis zum Ende der DDR 1990 als Autor jenes „Manifests des Bundes Demokratischer Kommunisten“, das der Spiegel im Januar 1978 veröffentlichte. Es forderte wie seine Dissertation den Übergang von der asiatischen Produktionsweise des bürokratischen „Staatskapitalismus“ zur sozialistischen Volkswirtschaft, von der Ein-Parteien-Diktatur zu Parteienpluralismus und Gewaltenteilung. Erst 1998 stellte sich der wahre Autor (Hermann von Berg, ein Leipziger SED-Dissident) heraus.

Verhältnis zum Parlamentarismus

Dutschke lehnte die repräsentative Demokratie in den sechziger Jahren entschieden ab, weil er das Parlament nicht als Volksvertretung ansah. In einem Fernsehinterview erklärte er am 3. Dezember 1967:

Ich halte das bestehende parlamentarische System für unbrauchbar. Das heißt, wir haben in unserem Parlament keine Repräsentanten, die die Interessen unserer Bevölkerung – die wirklichen Interessen unserer Bevölkerung – ausdrücken. Sie können jetzt fragen: Welche wirklichen Interessen? Aber da sind Ansprüche da. Sogar im Parlament. Wiedervereinigungsanspruch, Sicherung der Arbeitsplätze, Sicherung der Staatsfinanzen, in Ordnung zu bringende Ökonomie, all das sind Ansprüche, die muss aber das Parlament verwirklichen. Aber das kann es nur verwirklichen, wenn es einen kritischen Dialog herstellt mit der Bevölkerung. Nun gibt es aber eine totale Trennung zwischen den Repräsentanten im Parlament und dem in Unmündigkeit gehaltenen Volk.

Um diese Entfremdung zwischen Regierenden und Regierten zu überwinden, sprach er sich für eine Räterepublik aus, die er in West-Berlin vorbildhaft aufbauen wollte. Wie in der Pariser Kommune sollten sich auf der Basis selbstverwalteter Betriebe Kollektive von höchstens dreitausend Menschen bilden, um ihre Angelegenheiten im herrschaftsfreien Diskurs, mit Rotationsprinzip und imperativem Mandat ganzheitlich selbst zu regeln. Polizei, Justiz und Gefängnisse würden dann überflüssig. Auch werde man nur fünf Stunden täglich arbeiten müssen.

Früher war der Betrieb die Ebene, wo das Leben totgeschlagen wurde. Indem die Fabrik unter eigene Kontrolle genommen wird, kann sich in ihr Leben entfalten. Arbeit kann dann Selbsterzeugung des Individuums bedeuten statt Entfremdung.

Als Keimzellen solcher Kollektive schlug er politische „Aktionszentren“ vor, die das studentische Milieu mit der Lebenswelt der Arbeiter vermitteln und andere Formen des Zusammenlebens ausprobieren sollten. Dies fand er später in den Bürgerinitiativen, der Alternativ- und Ökologiebewegung teilweise realisiert.

Vor wie nach dem Attentat grenzte er sich von fast allen bestehenden Parteien ab und suchte ständig nach neuen, unmittelbar wirksamen Aktionsformen. Zugleich fand er aber bei den italienischen Eurokommunisten Geistesverwandte und erwog schon früh die Gründung einer neuen Linkspartei. Doch seine Skepsis gegen eine verselbständigte „revisionistische“ Partei-Elite überwog.

Seit 1976 engagierte Dutschke sich für den Aufbau einer ökosozialistischen Partei, die die neuen außerparlamentarischen Bewegungen bündeln und parlamentarisch wirksam werden lassen sollte. Ab 1978 setzte er sich mit anderen für eine grünalternative Liste ein, die an den kommenden Europawahlen teilnehmen sollte. Im Juni 1979 gewann Joseph Beuys Dutschke für gemeinsame Wahlkampfauftritte. Im August wurde er Mitglied der Grünen Liste Bremens, die am 7. Oktober als erster grüner Landesverband die Fünf-Prozent-Hürde übersprang. Damit hatte er sich schließlich dem Parlamentarismus zugewandt.

Bald darauf wurde Dutschke als Delegierter für den Gründungsparteitag der Grünen gewählt. Auf dem Programmkongress in Offenbach trat er in Verbindung mit der „deutschen Frage“ für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen und damit für ein Widerstandsrecht gegen die Militärblöcke in West wie Ost ein. Dieses Thema warf sonst niemand auf, da es der strikten Gewaltfreiheit widersprach, auf die sich die Mehrheit dann festlegte: Die Grünen wollten damals eine streng pazifistische Antiparteien-Partei sein.

Verhältnis zur Deutschen Einheit

Die deutsche Teilung war für Dutschke schon seit seiner DDR-Jugend ein Anachronismus, da beide deutschen Teilstaaten das Erbe des Faschismus erst noch zu überwinden hätten. Die Berliner Mauer versuchte er am 14. August 1961 einzureißen und wurde dafür in West-Berlin inhaftiert.

Dutschkes nach dem 17. Juni 1967 entworfenes, damals kaum beachtetes Modell einer „befreiten Räterepublik Berlin“ sollte auf Ostdeutschland ausstrahlen und Vorbild einer künftigen gesamtdeutschen Basisdemokratie werden:

Wenn sich Westberlin zu einem neuen Gemeinwesen entwickeln sollte, würde das die DDR vor eine Entscheidung stellen: entweder Verhärtung oder wirkliche Befreiung der sozialistischen Tendenzen in der DDR. Ich nehme eher das letztere an.

Er bejahte die deutsche Wiedervereinigung, die westdeutsche Linke damals fast einhellig ablehnten, „als revolutionäres Kettenglied des Angriffs gegen Spätkapitalismus und Revisionismus“ und somit als integralen Bestandteil einer erfolgreichen sozialistischen Revolution in beiden deutschen Teilstaaten.

So wie er etwa den Vietnamkrieg als „nationale Befreiung“ vom Imperialismus begrüßte, so sah er die auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs anzustrebende sozialistische Revolution als notwendige Stärkung des Selbstbewusstseins der Deutschen gegen die Fremdbestimmung von außen. Diese sollte den Rückfall in alten Nationalismus langfristig gerade verhindern.

Bernd Rabehl versuchte in seiner von der Fachwelt meist abgelehnten Biografie, seinen früheren Mitstreiter als Vertreter einer „nationalen Revolution“ zu vereinnahmen. Dem widersprach Gretchen Klotz energisch:

Rudi wollte die Unterwürfigkeit als Persönlichkeitsmerkmal einer deutschen Identität abschaffen. [...] Er kämpfte für ein antiautoritäres, demokratisches, vereintes Deutschland in einer antiautoritären, demokratischen und sozialistischen Welt. Er war kein 'Nationalrevolutionär', sondern ein internationalistischer Sozialist, der im Gegensatz zu anderen begriffen hatte, dass es politisch falsch ist, die nationale Frage zu ignorieren. [...] Er suchte etwas ganz Neues, das nicht anschloss an die autoritäre, nationalchauvinistische deutsche Vergangenheit. Wer Rudi anders interpretiert, verfälscht seine Ideen.

Aktuelle Diskussion

Dutschkes Denken und Handeln wird heute besonders in Bezug auf sein Verhältnis zu Gewalt erneut kontrovers diskutiert. Umstritten ist besonders sein auf Guevara gestütztes Konzept der „Stadtguerilla“, das er seit 1966 entwickelte. Der Politikwissenschaftler Wolfgang Kraushaar sieht darin die theoretische Fundierung des Terrorismus, wie ihn die RAF später ausübte. Er zeigt anhand vieler, teilweise unveröffentlichter Aussagen Dutschkes, das Konzept sei kein „Verfalls- und Verzweiflungsprodukt der 68er-Bewegung“, sondern feste Begründung ihrer Aktionen gewesen. So hieß es im „Organisationsreferat“ an, das Dutschke mit Hans-Jürgen Krahl verfasst und am 5. September 1967 beim Bundeskongress des SDS in Frankfurt a.M. vorgetragen hatte:

Die 'Propaganda der Schüsse' (Che Guevara) in der 'Dritten Welt' muss durch die 'Propaganda der Tat' in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.

Die Frankfurter Rundschau folgert, „dass Dutschke propagierte, was Baader und die RAF praktizierten.“ Der Journalist Richard Herzinger wirft ihm und seinen Genossen vom SDS heute vor:

Indem sich die 68er dieser todessüchtigen Gewaltideologie des Trikont-Propheten Che Guevara anschlossen, verlangten sie also nicht nach weniger, sondern nach mehr Krieg, nicht nach weniger, sondern nach mehr Opfern.

Worin genau die von Dutschke geforderte „Irregularität“ bestehen sollte, ist jedoch mehrdeutig. Seine Witwe Gretchen Klotz und andere sehen hier gezielte konfrontative, aber nicht gewaltsame Regelverstöße zur Erweiterung demokratischer Handlungsspielräume. Sie schrieb zum Beispiel am Montag, dem 8. August 2005, in der taz:

Wenn Rudis Theorien zum Baader-Meinhof-Terrorismus geführt haben, dann hat Thomas Jefferson auch Osama Bin Laden inspiriert.

Wegen solcher Aussagen werfen deutsche Historiker Frau Klotz heute zum Teil eine „Pflege des Mythos Dutschke“ vor. Die Diskussion ist unabgeschlossen.

Auslöser für die Diskussion war ein Vorschlag der taz, die Kreuzberger Kochstraße, in der auch das taz-Verlagshaus liegt, aus Anlass seines 25. Todestags in „Rudi-Dutschke-Straße“ umzubenennen. Die seit 1736 nach Hofrat Johann Jacob Koch benannte Straße kreuzt im Herzen Berlins die Friedrichstraße, führt am Axel-Springer-Haus vorbei und trifft im weiteren Verlauf auf die Axel-Springer-Straße.

Nach achtmonatiger öffentlicher Debatte stimmte die Mehrheit der Bezirksverordnetenversammlung Friedrichshain-Kreuzberg am 29. August 2005 dafür, die Kochstraße zwischen Friedrichstraße und Lindenstraße umzubenennen. Die Vertreter der Linkspartei.PDS und von Bündnis 90/Die Grünen waren dafür, während CDU, SPD und FDP den Vorschlag ablehnten. Die CDU-Vertreter hatten vergeblich eine Bürgerbefragung darüber gefordert.

Die Umbenennung erfolgte, nachdem frühere Anläufe zur Benennung einer Straße in Dahlem nahe der Freien Universität nach dem Studentenführer an den bürgerlichen Mehrheitsverhältnissen im Bezirk Zehlendorf gescheitert waren. Als Verlegenheitslösung wurde daher 1999 ein Weg auf dem Gelände der FU nach ihm benannt, der jedoch weder Anwohner noch Hausnummern hat. Die jetzt von PDS und Grünen beschlossene Benennung einer bewohnten, sehr zentral gelegenen Straße gilt als politische Ausnahme.

Werke

  • Rudi Dutschke: Jeder hat sein Leben ganz zu leben - Die Tagebücher 1963-1979 (Hrsg. v. Gretchen Dutschke), Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. ISBN 3462032240
  • Rudi Dutschke: Geschichte ist machbar. Texte über das herrschende Falsche und die Radikalität des Friedens. Hrsg. von Jürgen Miermeister, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1991. ISBN 3803121981.
  • Rudi Dutschke: Zur Literatur des revolutionären Sozialismus von K. Marx bis in die Gegenwart. sds-korrespondenz sondernummer 1966. (diverse Reprints, im Internet hier)
  • Rudi Dutschke: Mein langer Marsch. Reden, Schriften und Tagebücher aus zwanzig Jahren Hrsg. von Gretchen Dutschke-Klotz, Helmut Gollwitzer und Jürgen Miermeister, Rowohlt 1980. ISBN 3499147181
  • Rudi Dutschke: Aufrecht gehen - Eine fragmentarische Autobiographie, Olle und Wolter, Berlin 1981. ISBN 3883954276
  • Rudi Dutschke: Lieber Genosse Bloch... - Briefe Rudi Dutschkes an Karola und Ernst Bloch. Hrsg. von Karola Bloch und Welf Schröter, Talheimer Verlag 1988, ISBN 3893760016
  • Rudi Dutschke: Versuch, Lenin auf die Füße zu stellen. Über den halbasiatischen und den westeuropäischen Weg zum Sozialismus. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 1984
  • Uwe Bergmann/Rudi Dutschke/Wolfgang Lefèvre/Bernd Rabehl: Rebellion der Studenten oder die neue Opposition. Eine Analyse. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, 1968.
  • Frank Böckelmann/Herbert Nagel (Hrsg.): Subversive Aktion. Der Sinn der Organisation ist ihr Scheitern. Verlag Neue Kritik, Frankfurt am Main 1976.
  • Fritz J. Raddatz (Hrsg.): Warum ich Marxist bin. Kindler Verlag, München 1978, S. 95-135, ISBN 3463007185
  • Rudi Dutschke: Gekrümmt vor dem Herrn, aufrecht im politischen Klassenkampf: Helmut Gollwitzer und andere Christen. In: Andreas Baudis u.a. (Hrsg.): Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens. Für Helmut Gollwitzer zum 70. Geburtstag. Christian Kaiser Verlag 1978, S. 544-577, ISBN 3459011866

Literatur

Weblinks

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Kurzbiographien:

Diskussion über die Gewaltfrage: